Krawatte weg, los geht’s
Der 52-Jährige gibt sich modern, redegewandt und – tiefenentspannt. Wenn er auf der Bühne bedächtig seine Krawatte abnimmt, wissen seine Fans: Jetzt legt er gleich los. Aber nicht so, wie man es in der Türkei von der AKP, aber auch anderen Parteien gewohnt ist, nämlich von oben herab oder gar beleidigend. Nein, der „Neue“ präsentiert sich inklusiv, alle einbindend. Das kommt an bei der Bevölkerung, die die jahrzehntelang geübte Praxis der Spaltung und Polarisierung offenbar satt hat.
Was Imamoğlu (der Name bedeutet „Sohn des Imams“) aber nicht daran hindert, sich mit Erdoğan anzulegen. „Diese Stadt (Istanbul)“, sagte er einmal, „gehört den 16 Millionen Einwohnern“, mehr noch „sie gehört den 86 Millionen Türkinnen und Türken – nicht dir.“ Gemeint war der Staatschef, der nach der Wahlschlappe vom Sonntag selbst von einem „Wendepunkt“ sprach.
Und dem nun endgültig ein mächtiger und ebenbürtiger Gegner für die Präsidentenwahl 2028 erwachsen sein dürfte (so Erdoğan nochmals antreten will). Denn wie die prägende Gestalt der türkischen Politik des vergangenen Vierteljahrhunderts beherrscht auch Imamoğlu die Kunst, das Publikum in seinen Bann zu ziehen.
Er spricht direkt mit ihm, erzählt Geschichten und ist spontan. Als den dreifachen Familienvater ein Mädchen einmal bittet, auf die Bühne kommen zu dürfen, gewährt er dies sofort – und gleich auch einem zweiten. Umgeben von den beiden formuliert der „Menschenfänger“: „Trau keinem Politiker, den die Kinder nicht mögen.“ Das sitzt, der Applaus ist tosend.
Er könnte den studierten Betriebswirt, der einst ein auf Köfte spezialisiertes Restaurant führte und das Bauunternehmen seiner Familie leitete, vom Rathaus in Istanbul bis in den Präsidentenpalast in Ankara tragen. Jetzt schon will er jedenfalls international wahrgenommnen werden. Mit seinem Team betreibt der smarte Politiker einen englischsprachigen Account auf X (vormals Twitter) und auch auf Instagram. Dort teilt Imamoğlu immer wieder Fotos von Besuchen ausländischer Vertreter – so, als ob er jetzt schon die gesamte Türkei verträte.
Drohendes Politikverbot
Dabei ist keineswegs gewiss, ob er seine Polit-Karriere zunächst überhaupt fortführen kann. Denn dem Shootingstar droht ein Politikverbot. Der Vorwurf: Beleidigung der Wahlkommission 2019. „Diejenigen, die das Ergebnis annulliert haben, sind Dummköpfe“, sagte er damals – und wurde deswegen Ende 2022 zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt. Jetzt ist ein Berufungsgericht am Zug.
Auch Erdoğan war einst (1998) verurteilt und mit einem politischen Betätigungsverbot belegt worden – es ging um einen vermeintlichen Verstoß gegen die laizistische Ordnung der Türkei. Vier Jahre später fuhr die von ihm gegründete AKP einen fulminanten Wahlsieg ein – und galt danach der Mehrheit der Türken über viele Jahre hinweg als der große Hoffnungsträger. Am vergangenen Sonntag wandte sie sich aber einem neuen zu.
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