Vom Musterknaben zum Mittelmaß: Deutschland in zweiter Coronawelle

Vom Musterknaben zum Mittelmaß: Deutschland in zweiter Coronawelle
Hohe Zahlen beenden den deutschen Weg des "Lockdown light". Die Gründe sind vielschichtig: Föderalismus bis fehlende Vorsorge.

Mehr als einmal hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder im Sommer betont, wie vorbildlich Deutschland durch die erste Welle der Coronakrise gekommen sei. "Europa schaut eigentlich etwas bewundernd auf Deutschland", hatte er etwa am 30. April betont. Aber davon ist derzeit nicht mehr viel zu hören.

Im Gegenteil: Deutsche Politiker sind seit Tagen erkennbar verunsichert, weil die Zahl der Neuinfektionen trotz mehrfacher Verschärfungen der Maßnahmen weiter steigt - in Ländern wie Sachsen, Thüringen und Bayern sogar drastisch. "Corona ist außer Kontrolle geraten", sagt Söder nun. "Wenn wir nicht aufpassen, wird Deutschland schnell das Sorgenkind in ganz Europa."

Tatsächlich attestieren viele ausländische Medien der größten Wirtschaftsmacht in Europa nun, mitten in der zweiten Coronawelle nicht so gut dazustehen. "Der deutsche Weg ist krachend gescheitert", schreibt die "Basler Zeitung" zum Versuch eines "Lockdown light". Etliche europäische Nachbarn verzeichnen nach harten Lockdowns zumindest vorübergehend niedrigere Infektionszahlen. Plötzlich häufen sich in deutschen Medien Berichte, was Asien und auch andere EU-Länder besser gemacht hätten. In Österreich dagegen wird gerade mit Verweis auf die schlechten deutschen Zahlen ein erneuter harter Lockdown gefordert. Deutschlands Absturz in die Mittelmäßigkeit bei der Coronabekämpfung hat dabei ein ganzes Bündel an Gründen.

Deutschland reagiert generell zu langsam auf Krisen, das wird auch in der deutschen Regierung eingeräumt. Der auf Konsens ausgerichtete politische Stil erschwert in einer sich sehr dynamisch entwickelnden Pandemie eine schnelle Abstimmung. Bereits Mitte Oktober pochte Kanzlerin Angela Merkel auf drastische Maßnahmen. Beschlossen wurden sie erst am 13. Dezember. Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller weist Kritik an den Ländern allerdings zurück und betont, dass man eben schrittweise vorgegangen sei und durchaus "Teilerfolge", zunächst eine Stabilisierung auf hohem Niveau, erzielt habe.

Problemfeld Verwaltung

Es hakt aber auch in der Verwaltung: Die Wirtschaft kritisiert, dass die sogenannten November-Soforthilfe vom deutschen Wirtschafts- und -Finanzministerium für geschlossene Unternehmen erst im Jänner ausgezahlt werden. Geld ist da - es kann aber nicht abfließen, weil die nötige Software fehlt. Dies hat auch Auswirkungen auf die fehlende digitale Ausstattung der Schulen, den langsamen Umbau der Schulgebäude etwa für das Lüften und damit auch auf das Infektionsgeschehen. Auch die Coronawarnapp bekommt aus politischen und technischen Gründen nur Schritt für Schritt die Funktionen, die sie für einen effektiven Einsatz zu Beginn der zweiten Welle gebraucht hätte.

Auch bei Schutzmasken zögerte man lange: Bis heute sind nicht alle Alten- und Pflegeheime mit einer ausreichenden Anzahl an den sicheren FFP2-Masken oder mit Coronaschnelltests ausgestattet. Dazu kommt deutsche Gründlichkeit. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet etwa verwies darauf, dass man noch keine Luftsäuberungsgeräte für Schulen anschaffen könne, weil die nötigen Zertifikate fehlten.

Bis heute gibt es Streit, wie groß beispielsweise der Beitrag der Schule beim Infektionsgeschehen ist. Virologen wie Christian Drosten halten ihn für erheblich, weil Kinder zwar seltener Symptome zeigten, aber das Virus weitertragen könnten. Die Kultusminister und einige Ministerpräsidenten verwiesen dagegen lange auf die prozentual sehr geringen Zahlen bei den Neuinfektionen. Ab dem 16. Dezember werden nun die Schulen wieder weitgehend geschlossen.

Als Lehre aus der ersten Welle entschieden Bund und Länder, dass keine Betriebe, Grenzen und Schulen geschlossen werden sollten. Das führte aber dazu, dass man bestimmte Gefahren unterschätzte und nicht mehr diskutierte. Auch als Tschechien und Österreich Sieben-Tages-Inzidenzen von mehr als 1.000 auswiesen, wurde der Kleine Grenzverkehr in Bayern und Sachsen nicht reguliert. Dies erfolgte erst Ende November. Am 13. Dezember verwies Bayerns Ministerpräsident Söder dann darauf, dass die hohen Infektionszahlen in Bayern auch mit der Grenznähe zusammenhänge.

" Falsche Prioritätensetzung bei den Maßnahmen"

Zudem haben es die Länder abgewehrt, dass der Öffentliche Nahverkehr als Infektionsquelle diskutiert wurde. Noch am 25. November verhinderten die Ministerpräsidenten nach Informationen von Reuters aus Teilnehmerangaben einen vom Bund gewünschten Passus, dass die Deutsche Bahn nur noch Fensterplätze reservieren soll - mit dem ausdrücklichen Argument, dass man einen solchen Standard in den teilweise überfüllten U-Bahnen und Bussen nicht bieten könne.

Virologen wie Henrik Streeck kritisierte zudem seit längerem eine falschen Prioritätensetzung bei den Maßnahmen: "Meine wichtigste Empfehlung lautet: Wir müssen die Risikogruppen endlich besser schützen. Das gilt insbesondere für Alten- und Pflegeheime", sagte er am Montag dem "Münchner Merkur". Der Grund: Heimbewohner machen mehr als die Hälfte der Coronatoten aus.

Bei vielen Punkten entdeckte die deutsche Bundesregierung erschreckt, dass in Deutschland Strukturen oder Fähigkeiten fehlten, um auf eine Pandemie reagieren zu können. Nach dem Ende des Kalten Krieges war der Katastrophenschutz heruntergefahren worden. Es wurden nicht nur Bunker, sondern auch Vorratslager für Schutzmaterial aufgelöst. Deshalb fehlten schon in der ersten Welle gute, sichere FFP2-Masken, die Abhängigkeit von China wurde überdeutlich. Dies führte erst zu hektischen Einkäufen und dann zu einem staatlich geförderten Aufbau einer heimischen Produktion - die aber erst jetzt und in geringem Volumen einsetzt.

Monatelang wurde über einen föderalen "Flickenteppich" in Deutschland gestritten - sowohl bei der Verschärfung der Maßnahmen in der ersten Welle, als auch bei den dann folgenden Lockerungen und nun wieder bei den erneuten Einschränkungen. Denn die Lage in 16 Bundesländer war lange Zeit sehr unterschiedlich. Die Länder sind zudem nach dem Bevölkerungsschutzgesetz für die allermeisten Maßnahmen zuständig. Auch am Sonntag lobten Merkel und die Ministerpräsidenten, dass eine Problemlösung vor Ort der bessere Ansatz sei als zentralistische Entscheidungen wie etwa in Frankreich.

Aber bei der sich schnell entwickelnden zweiten Welle erwies sich diese Mehrfachzuständigkeit Bund-Land-Kommunen auch als Hemmschuh. Auf Merkels Drängen zu schärferen Maßnahmen seit Mitte Oktober reagierte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer mit dem Verweis, dass man eben noch bis Mitte November an "extrem unterschiedliche Situationen" geglaubt habe. Mittlerweile aber liegen längst alle Bundesländer über dem Grenzwert von 50 bei der Sieben-Tage-Inzidenz, zuletzt auch Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Wie schwer es ist, strikt durchzugreifen, bekam der thüringische Landkreis Hildburghausen zu spüren, selbst als dort die Infektionszahlen in dramatische Höhe schossen: Einige coronaskeptische Bürgermeister verweigerten freiwillige Coronatests an Schülern. Statt 9.000 Kindern wurden nur knapp 2.500 getestet.

Ein weiteres Problem waren in Deutschland die Gerichte, die viele Verschärfungen kippten oder Lockerungen mit dem Verweis auf die Gleichbehandlung von Branchen stärker beschleunigten, als die Politik dies wollte. Zudem erlaubten sie wie das Oberverwaltungsgericht Bautzen große Demonstrationen von Coronaleugnern etwa in Leipzig, die von der sächsischen Landesregierung als ein Grund für die schnelle Ausbreitung angesehen wurden. Viele Einschränkungen wie etwa die Schließung auch der Kultureinrichtungen wurden mit Blick auf mögliche Gerichtsurteile entschieden. Allerdings hat sich die Lage entspannt: Das deutsche Bundesverfassungsgericht etwa bewertet nun den Gesundheitsschutz in Abwägung mit anderen Grundrechten höher. Söder verwies darauf, dass in Bayern aus Sicht der Regierung "nur etwas über zwei, knapp drei Prozent" der Verfahren verloren gingen.

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