Nyírmártonfalva, eine unscheinbare 2.000-Einwohner-Gemeinde im äußersten Osten Ungarns, die sich seit Kurzem immer größerer Bekanntheit erfreut: Mitten auf einem freien Feld steht dort eine 50 Meter lange, brückenartige Holzkonstruktion – finanziert durch EU-Mittel.
Der „Baumwipfelpfad ohne Baumwipfel“ ist mittlerweile zu einem Sinnbild für Korruption und Missbrauch von EU-Geldern in Ungarn geworden. Aufgedeckt wurde er vom unabhängigen Parlamentarier Ákos Hadházy, Ex-Fidesz-Mitglied und der „Korruptionsjäger“ in Ungarn. Bei der Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán macht er sich damit alles andere als beliebt.
KURIER: Herr Hadházy, was hat es mit diesem „Baumwipfelpfad“ auf sich?
Hadházy: Er zeigt sehr schön, wie Ungarn in den letzten 13 Jahren EU-Subventionen verschwendet hat. Dieser Pfad wurde von einem Fidesz-Bürgermeister gebaut, auf seinem eigenen Land. Vorher hat er die Bäume abholzen lassen und verkauft, um das Projekt vorfinanzieren und im Nachhinein 160.000 Euro für die „Belebung des Tourismus im ländlichen Raum“ kassieren zu können. Das ist Betrug, dumm und unverschämt.
Der „Baumwipfelpfad“ ist nicht der einzige Korruptionsvorwurf in Ungarn, oder?
Nein, es gibt genügend. Schwierig ist nicht, die Fälle zu finden, sondern dass sie es in die ungarische Presse schaffen. Die meisten Menschen wissen trotzdem, was hier passiert.
Nämlich? Wie funktioniert das System Orbán?
Fidesz-treue Politiker sowie deren Freunde und Familienmitglieder werden extrem bevorzugt. Sehr bekannt und nachgewiesen ist etwa die Geschichte mit den LED-Straßenlampen: Das Unternehmen von Orbáns Schwiegersohn hat den Auftrag zur Modernisierung der Straßenbeleuchtung Dutzender Gemeinden bekommen, weil die Ausschreibung exakt auf das Unternehmen zugeschnitten war. Kein anderer Anbieter hatte eine Chance.
Andere Beispiele sind das riesige Fußballstadion in Orbáns Heimatort Felcsút sowie die Schmalspurbahn, die in ein Maisfeld fährt. Das sind alles sinnlose Projekte, die mit EU-Geldern gefördert wurden.
Es gibt auch den Vorwurf, dass Orbán Städte, die von der Opposition regiert werden, benachteiligen würde.
Das stimmt. Budapest ist das prominenteste Beispiel, aber das passiert vielen größeren Städten, in denen die Opposition 2019 die Wahlen gewonnen hat. Die Städte werden bestraft, indem Bauprojekte oder Subventionen in Form von Corona- oder aktuell Energie-Hilfszahlungen in Fidesz-Städte fließen, ohne dass diese transparente Kriterien erfüllen müssen.
Städten der Opposition werden hingegen Gelder weggenommen. Ein Beispiel ist Hódmezővásárhely, wo der Oppositionskandidat der letzten Parlamentswahl, Péter Márki-Zay, Bürgermeister ist. Der für Bauprojekte zuständige Minister János Lázár sagte im Wahlkampf 2019, dass die Stadt bei einer Wiederwahl Márki-Zays keinen einzigen Forint Unterstützung bekommen werde.
Ákos Hadházy sitzt seit 2016 im ungarischen Parlament in Budapest. Bis 2013 war er Fidesz-Mitglied, danach unabhängig – mit einem Zwischenstopp bei der grünliberalen LMP.
Der 49-Jährige wurde als „Korruptionsaufdecker“ der Orbán-Regierung bekannt, durch Demonstrationen und teilweise nicht ganz unpopulistische Aktionen.
28 Milliarden Euro hält die Europäische Union wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit und aus Angst vor Veruntreuung gegenüber Ungarn und seiner rechtskonservativen Regierung zurück. Eine Freigabe ist derzeit nicht in Sicht.
Finden Sie es deshalb gut, dass die EU Gelder zurückhält?
Das ist die einzig richtige Entscheidung. Wir als Opposition wollen natürlich nicht, dass die Gelder verloren gehen. Aber wenn die Vergabe so wie aktuell nur durch nationale Behörden kontrolliert wird, helfen die Mittel Ungarn nicht, sondern schaden nur. Sie gehen an die Oligarchen, steigern weder die Wettbewerbsfähigkeit des Landes, noch erhöhen sie den Wohlstand der Bevölkerung.
Ungarn muss Mitglied der Europäischen Staatsanwaltschaft werden. Das ist die einzige Lösung, um die Korruption zu beenden. Die ungarische Staatsanwaltschaft, die nichts gegen die korrupte Regierung macht, und Orbáns Propagandamaschine halten das System am Leben. Die Regierung gibt allein 50 Milliarden Forint (133 Millionen Euro) pro Jahr für politische Werbung aus.
Sie waren bis 2013 Mitglied von Orbáns Fidesz-Partei. Warum sind Sie ausgetreten?
Ich habe viele Fälle von Korruption gesehen. Doch der Trafikskandal 2013 war zu viel: Damals wurde der Tabakhandel in Ungarn neu geregelt. Zehntausenden kleinen Geschäften wurde der Verkauf verboten, stattdessen wurde die Lizenz an ein paar Tausend Fidesz-Mitglieder neu vergeben. Im Kommunismus wurden meinen Großeltern die Felder weggenommen und an Parteifreunde verteilt. Das war damals nichts anderes.
Nachdem ich aus der Partei ausgetreten bin, haben mich die Medien als Verräter dargestellt. Gegen mich werden Schmutzkampagnen gefahren: Sie behaupten, ich hätte meinen Nachbarn getötet oder meine Kinder geschlagen. Vor Gesetz könnte ich gegen diese Aussagen gewinnen, nicht aber vor den Fidesz-Anhängern. Ich erhalte auch Drohbriefe.
Aber irgendjemand muss das alles ja machen – damit Europa weiß, worum es in Ungarn geht.
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