Signale: Wird Kiew bald mit Moskau verhandeln?
Während die Augen der Welt derzeit auf die Olympischen Spiele und den US-Wahlkampf gerichtet sind, geht der Krieg in der Ukraine mit unverminderter Härte weiter. Entlang der gesamten Front greifen die russischen Streitkräfte an, rücken weiterhin langsam, aber sicher, vor.
FAB-Gleitbomben und die russische Artillerie legen ganze Häuserblocks in Schutt und Asche – unter anderem in der Stadt Wowtschansk im Raum Charkiw, wo die Russen vor zweieinhalb Monaten einen neuen Frontabschnitt eröffnet haben. Und die ukrainischen Streitkräfte damit noch mehr unter Druck setzen. Zwar ist es nicht ausgeschlossen, dass die ukrainischen Soldaten hier Erfolge erzielen, für Oberst Markus Reisner ist dieser russische Angriff jedoch ein Köder: „Die Ukraine hat dort sofort Kräfte hingeschickt, die ihnen im Donbass fehlen“, sagt er zum KURIER.
Menschliche Reserven sind eines der großen Probleme der Ukraine. Laut einer Umfrage des staatlichen Senders Suspilne News sind nur 20 Prozent der 25 bis 59 Jahre alten Männer bereit, einzurücken. Bereits jetzt kämpfen ukrainische Häftlinge an der Front, wie es in Russland seit Längerem der Fall ist. Kiew erwartet sich bis zu 20.000 Häftlinge in Uniform – noch immer zu wenig, um den Bedarf der Streitkräfte zu decken.
F-14-Jets 40 Kilometer vor der Front
Ein Problem, das auch der ukrainische Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Oleksandr Sirskij, kürzlich gegenüber dem britischen Guardian betonte. Den wahrscheinlich kurz bevorstehenden Einsatz von F-16-Kampfjets bezeichnete der General als eine Stärkung der ukrainischen Luftverteidigung – die Jets müssten 40 Kilometer vor der Frontlinie operieren, da Russland über eine zu starke Luftabwehr verfüge. Man setze an der Front vor allem auf unbemannte Systeme. Doch auch im elektromagnetischen Feld (unter anderem wichtig für die Drohnenabwehr, Anm.) habe Russland Fähigkeiten auf hohem Niveau, sagt Oberst Reisner.
Neben Artillerieschlägen, Drohnenangriffen und Mehrfachraketenwerfen machen vor allem die russischen FAB-Bomben den ukrainischen Streitkräften zu schaffen. Diese Gleitbomben sind im Wesentlichen konventionelle Bomben, die mit Navigationssystemen und zusätzlichen Flügeln ausgestattet sind. Sie sind leicht und günstig herzustellen – und zerstören regelmäßig ukrainischen Stellungen.
Die "FAB-Krise"
Mehr als einhundert FAB-Angriffe pro Tag verzeichnen die ukrainischen Streitkräfte. Allein die Krater, die diese Bomben – von 250 bis 3.000 Kilogramm schwer– verursachen, sind massiv. Gebäude können den Einschlägen nicht standhalten, feste Stellungen zumeist ebenfalls nicht. Reisner bezeichnet dies als die sogenannte „FAB-Krise“.
„Es gibt Stimmen, die meine Einschätzungen als Schwarzmalerei sehen. Doch es ist nun einmal ein realistisches Lagebild, das ich hier zeichne. Sei es der letzte Bericht des Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (RUSI), oder die jüngsten Aussagen Sirskijs – es ist die bittere Realität“, sagt Reisner. „Damit Kiew seine Ziele erreicht, müsste der Westen massiv Ressourcen liefern. Diese müssten mit gut ausgebildeten ukrainischen Soldaten kombiniert werden. Derzeit geht ein Infanterist nach fünf Wochen an die Front und weiß nicht, ob er die nächsten Wochen überleben wird.“
Die mangelnde Unterstützung durch westliche Staaten dürfte unter anderem dazu geführt haben, dass in den vergangenen Tagen ungewohnte Botschaften aus Kiew zu hören waren: „Wir werden mit denen sprechen, die in Russland alles entscheiden", sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij in einem BBC-Interview. Wenngleich er nach wie vor die Position vertritt, dass sich Russland aus allen ukrainischen Gebieten zurückziehen müsse, ist dies eine bemerkenswerte Wende.
Peking als Vermittler?
Bisher hatte Selenskij Gespräche mit Russland ausgeschlossen. Gleichzeitig hält sich der ukrainische Außenminister Dmitrio Kuleba in Peking auf, traf am Donnerstag sein chinesisches Pendant. Prinzipiell sei man bereit, mit Russland zu verhandeln – „zu einem bestimmten Zeitpunkt“, sagte er und bekräftigte Pekings potenzielle Vermittlerrolle.
Aus Reisners Sicht handelt es sich hierbei um „kleine Indikatoren auf diesem feinen Spinnennetz der diplomatischen Sensorik“. „Ich glaube, dass Kiew zu sondieren versucht, was möglich ist“, sagt er. Für Verhandlungen sind laut Umfragen des ukrainischen Rasumkow-Zentrums 44 Prozent der Ukrainer, 35 Prozent sind dagegen. Für Abtretungen von Gebieten an Russland sind jedoch nur 7,6 Prozent der Befragten.
Moskau macht jedoch genau dies zur Bedingung, wenn es seine Bereitschaft zu Verhandlungen signalisiert. „Ich glaube, dass die Russen mit Blick auf die Entwicklungen in den USA und auf die Front mit ihrem Angriffskrieg weitermachen wollen. Sagen, ‚wenn wir die Ukraine in die Knie zwingen, wird der Sieg in Anbetracht unserer Verluste umso gewaltiger‘.“
Gratwanderung für Kiew
Und so lässt sich auch die Reaktion Russlands an das Angebot, bei einem Friedensgipfel dabei zu sein, erklären: Russland werde an einem solchen Gipfel nicht teilnehmen, sagte der Chef des Auswärtigen Ausschusses der russischen Staatsduma, Leonid Sluzki. Er bezeichnete die ukrainische Führung als vom Westen gesteuerte "Marionetten", von denen sich Moskau keine Bedingungen diktieren lasse.
Für Kiew ist es einmal mehr eine Gratwanderung, einerseits um dringend benötigte Flugabwehr- und Waffensysteme zu werben und andererseits aus einer starken Position heraus in etwaige Verhandlungen mit Moskau zu treten.
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