Die Oldies in Florida könnten die Wahl entscheiden
Chris Stanley hat ihre Kampfansage gegen Donald Trump immer dabei, auch ohne etwas zu sagen: „Pack ihn beim Stimmzettel“ steht in Abwandlung eines sexistischen Skandal-Spruchs des Präsidenten auf der schwarzen Corona-Schutzmaske der Vorsitzenden der Demokraten in „The Villages“.
Im am Reißbrett entstandenen Oldie-Mikrokosmos 80 Kilometer nordwestlich von Orlando im US-Bundesstaat Florida kann sich am 3. November herausstellen, wer ab 20. Jänner im Weißen Haus sitzt. Joe Biden – oder der Amtsinhaber.
Die 130.000 Bewohner (Altersschnitt: 70), die hier zwischen Erlebnis-Dörfern, Seen, Fitnesscentern, 100 Tennis- und 50 Golfplätzen mit 60.000 Gokart-ähnlichen Elektrofahrzeugen herumdüsen und dem kinderfreien Rentnerleben frönen, gehören zu den am meisten beachteten Wähler-Gruppen in Amerika.
Das kommt so: Florida ist mit 21,5 Millionen Einwohnern, davon 30 % über 65, bei jeder Wahl unter den Schlüsselstaaten der Generalschlüsselstaat. Wer die Älteren gewinnt und hier die Nase vorn hat, greift 29 Wahlmännerstimmen ab und holt meist auch die Präsidentschaft.
537 Stimmen reichten
Wie eng es da zugehen kann, zeigte sich vor 20 Jahren. Nach wochenlanger Nachauszählung und Streit bis vors Höchstgericht katapultierten 537 Stimmen mehr als Al Gore den Republikaner George W. Bush ins Weiße Haus.
Donald Trumps Vorsprung vor Hillary Clinton machte vor vier Jahren in ganz Florida 113.000 Stimmen aus – hauchdünne 1,2 Prozentpunkte. In den „Villages“, wo solvente Mittelschichtler nebst Gattin dem kontinentalen Winter entfliehen und die Happy Hour in Bars und Restaurants schon nach dem Mittagessen einläuten, waren es 17.
Kopf an Kopf
Also eine sichere Bank, möchte man meinen. Dass Donald Trump am vergangenen Freitag zur Last-minute-Wähler-Beschmeichelung unter heißer Spätherbstsonne in den „Dörfern“ einschwebte, zeigt für Chris Stanley etwas anderes: „schleichende Erosion“. In den Umfragen liegt Joe Biden beim Referenzportal www.realclearpolitics.com aktuell in Florida mit 1,5 Prozentpunkten vor Trump. Ein Kopf-an-Kopf-Rennen, bei dem um jede Stimme erbittert gekämpft wird.
In ihrem wuseligen Parteibüro in einem tristen Einkaufszentrum tauchten seit Wochen Leute vom anderen Ufer auf, erzählt die beruflich mit Lebensmittelsicherheit beschäftigte Funktionärin (56). Tenor: „Ich bin Republikaner. Das bleibt auch so. Wie kann ich trotzdem helfen, damit wir den Kerl im Weißen Haus loswerden?“ Und das nicht wegen Corona, obwohl die Altersgruppe statistisch am stärksten betroffen ist. „Nein, die Leute sorgen sich um ihre Sozialversicherung, die durch die auf Lohn und Gehalt erhobene ,Payroll-Tax‘ finanziert wird.“ Trump will die Steuer abschaffen.
Chris Stanley kalkuliert darum, dass der Präsident, den sie für „gefährlich“ und „Demokratie zersetzend“ hält, in den „Dörfern“ tüchtig einbüßt. Was bei 58.000 eingetragenen republikanischen Wählern, 22.000 Demokraten und 23.000 Unabhängigen keine „peanuts“ wären.
Die Aussicht darauf hat in den „Villages“ parallel zur Polarisierung im ganzen Land zu viel Zwietracht geführt. Rentner streiten bei der Wassergymnastik oder beim Einlochen auf dem Golfplatz. Wahl-Plakate werden aus den Vorgärten geklaut. Wer im Supermarkt mit Atemschutzmaske angetroffen wird, wird beschimpft. Ab und zu landen Beutel mit Kot in den mit Aufklebern politisch eindeutig identifizierbaren Golf-Carts.
Donald Trump bedankte sich hier ausdrücklich bei jenen, die sich für ihn prügeln.
John Calandro will von „Krieg im Rentner-Mekka“ nichts wissen. Der pensionierte Auto-Manager (Nissan) ist nach dem Umzug aus Detroit Aktivist im Ortsverein der Republikaner geworden. Enttäuschte Alte, die zu Biden abgewandert sind? Eine „Mär“. Nach 2016 hätten über 3.000 Village-People die Partei-Orientierung gewechselt. „Zwei Drittel kamen zu uns.“ Auch darum werde man am 3. November „leicht 30.000 Stimmen plus x mehr als die anderen einfahren“.
"Trump hat geliefert"
Schließlich gebe es für Trump unschlagbare Gründe. „Viele von uns haben Aktien als Altersversorgung“, sagt der 67-Jährige, „wir wollen unseren Lebensstandard halten. Die Börsen sind also wichtig. Donald Trump hat hier echt geliefert.“ Was die „radikalen Linken“ der Demokraten mit ihren Gratis-Angeboten in Bildung und Gesundheitswesen wollten, macht ihn sehr skeptisch. „Irgendwer muss doch dafür bezahlen“, sagt er vor der Republikaner-Zentrale am Paddock Square.
Ein dänisches TV-Team wartet auf ihn, als plötzlich ein schrill hupender Korso aus fünf Dutzend Autos und kleinen Golf-Caddys anrollt. „Drain The Swamp“ (Lege den Sumpf trocken) und „Build The Wall – Crime Will Fall“ (Bau die Mauer – das Verbrechen wird zurückgehen) plärrt es Trumps Evergreens aus den Lautsprechern. Frauen im reifen Alter spielen durchs Schiebedach mit Plakaten Polit-Pin-up-Girl. Kein Teilnehmer der Pro-Trump-Rally trägt Maske. Am Straßenrand gehen bei Passanten eindeutig mehr Daumen hoch als Mittelfinger.
Trump-Imitator
Auch Stan Swies ist begeistert. Der 77-jährige Ex-Versicherungsmakler ist mit seiner orange-farbenen Perücke, dem blauen Anzug und der roten Krawatte als Trump-Imitator eine landesweit bekannte Marke. Anfangs gar kein Trump-Fan, findet er heute „alles gut“. Grenzen dichtmachen, das Establishment ärgern, die klare Sprache. „Für Politiker, die glatt polierte Reden halten, aber nichts auf die Reihe kriegen, ist die Zeit abgelaufen“, sagt der auf polnische Wurzeln verweisende Swies, „Trump ist mein Mann der Stunde.“
Chris Stanley ist auf der Gegengeraden. Trump abzuwählen, ist für sie erste Bürgerpflicht. Noch mal vier Jahre mit einem Mann, der „tut, was er will“ – dann wäre das „amerikanische Demokratie-Experiment“ hinüber. In den „Villages“ werde Trump wohl gewinnen (weil die Reps dort in der Überzahl sind), aber erhebliche Stimmen-Einbußen unter den Alten hinnehmen müssen. Für ganz Florida rechnet sie mit einem Sieg für Biden. Stanley spürt „mehr Euphorie“ als bei Hillary Clinton. „Joe Biden ist ein guter Mensch, der zur richtigen Zeit kommt“, sagt sie und tippt auf ihre Kampfansage vor dem Mund: „Pack ihn beim Stimmzettel.“
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