"Wach bleiben oder verhaftet werden": Wie US-Städte künftig gegen Obdachlose vorgehen
Der Boardwalk von Atlantic City gehört zu den Touristen-Attraktionen der Glücksspiel-Metropole an der Küste New Jerseys. Dass unter den Holzplanken abends Dutzende Obdachlose ihre Behelfsunterkünfte aufschlagen, ist den Behörden aus Image-Gründen seit Langem ein Dorn im Auge.
Ein höchstrichterliches und hoch umstrittenes Urteil gibt nun nicht nur dem „Las Vegas des Ostens" das Rüstzeug an die Hand, die Ärmsten der Armen legal zu vertreiben. Überall in den USA, wo Obdachlose im Straßenbild auffallen, drohen weniger als 100 Tage vor den Präsidentschaftswahlen umstrittene Säuberungsaktionen und damit soziale Verwerfungen.
300 Dollar Strafe, sonst Gefängnis
Der Hintergrund: Die 40.000-Einwohner-Stadt Grants Pass im Süden des Westküsten-Bundesstaats Oregon hatte schon vor über zehn Jahren örtliche Verordnungen erlassen, die das Kampieren an öffentlichen Plätzen und in Autos unter Strafe stellen. Wer Decken, Kissen oder Kartons benutzte, um sich auf Bürgersteigen oder Parks vor den Unbillen der Natur zu schützen, machte sich fortan strafbar. Kostenpunkt: 295 Dollar pro Verstoß. Bei Zahlungsunfähigkeit drohte Gefängnis.
Lobbygruppen der „homeless”-Gemeinde beriefen sich auf den achten Zusatzartikel der Verfassung, wonach dieses Verbot eine „grausame und ungewöhnliche Bestrafung” darstellt. Sie bekamen vor einem regionalen Berufungsgericht Recht zugesprochen.
Was Grants Pass nicht auf sich sitzen ließ, sondern den Supreme Court in Washington anrief; obwohl es selber keine städtischen Notunterkünfte für Wohnungslose bereitstellt.
"Notwehr"
Mit 6:3-Stimmen hob das höchste Gericht der Vereinigten Staaten das Urteil der niederen Instanz kürzlich auf. Der federführende konservative Richter Neil Gorsuch erklärte, Städte müssten das Recht haben, Obdachlosen-Siedlungen zu verhindern. Aber: Sie könnte sich auch per Beschluss der Kriminalisierung von Schlafen-im-Freien verweigern.
Opfer einer Säuberungspolitik, die die Strafen nicht zahlen können, sollten sich auf eine Art „Notwehr” berufen, falls sie verklagt würden, riet der Richter.
"Biologisches Bedürfnis, kein Verbrechen"
Dem hielt stellvertretend für die frei liberalen Richterinnen „justice” Sonia Sotomayor entgegen, dass „Schlaf ein biologisches Bedürfnis ist und kein Verbrechen”. Für manche Menschen sei das „Schlafen im Freien die einzige Möglichkeit”.
Sie zu kriminalisieren, vor allem, wenn Kommunen keine oder nicht ausreichend Notunterkünfte bereitstellten, sei „skrupellos und verfassungswidrig”. Sotomayor lehnt die Alternative - „wach bleiben oder verhaftet werden” - rundum ab.
Die „National Alliance to End Homelessness”, eine bekannte Lobby-Gruppe, stimmt dem zu. Sie beklagt die „Kurzsichtigkeit” der Justiz, die den kommunalen Verwaltungen zum ersten Mal seit 40 Jahren ein „gefährliches Instrument” an die Hand gegeben habe.
Obdachlosen-Camps abzureißen, verdränge nur das dahinter stehende Problem nur aus der Öffentlichkeit, heißt es in einer Stellungnahme.
Die jahrzehntelange Drogenkrise, getoppt aktuell durch das tödliche Fentanyl; die Nachwirkungen der Corona-Krise, in der viele Amerikaner ihre Mieten nicht mehr zahlen konnten und auf der Straße landeten; der Mangel an bezahlbarem Wohnraum schlechthin - all das trage zum Ursachen-Bündel für Obdachlosigkeit bei, werde aber durch das Supreme Court-Urteil komplett ausgeblendet.
"Beschämend"
Dass US-Städte nun für das Schlafen unter freiem Himmel individuell Menschen festnehmen, ihnen Strafzettel ausstellen und Bußgelder gegen sie verhängen können - wissend, dass die Betroffenen bitterarm sind, wissend, dass es überall an Unterkünften für Bedürftige fehlt -, sei „beschämend".
Jesse Rabinowitz vom „National Homelessness Law Center” in Washington: „Obdachlose ins Gefängnis zu stecken oder sie mit Geldbußen zu bombardieren, hält sie für immer in der Spirale von Armut und Obdachlosigkeit.”
Über 650.000 Obdachlose
Nur nachhaltige Investitionen in Miethilfsprogramme und in den Erhalt von bezahlbarem Wohnraum für die ärmsten Bevölkerungsschichten könnten an der widrigen Konstellation vielleicht etwas ändern. Stand 2023 waren in den USA über 650.000 Menschen ohne Obdach, so viele wie nie zuvor. Über die Hälfte davon lebt unter freiem Himmel. Hilft da das neue Urteil?
Wie tief der Riss geht, zeigen gerade die beiden größten und von Demokraten regierten Städte im Bundesstaat mit den meisten Obdachlosen: Kalifornien. Los Angeles' Bürgermeisterin Karen Bass, verantwortlich für rund 75.000 „homeless-people” im Großraum der Millionen-Metropole lehnt die Durchsetzung des Gerichtsurteils ab.
London Breed in San Francisco hat dagegen den Startschuss gegeben, um Obdachlosen-Camps aufzulösen. Gouverneur Gavon Newsom, auch er ein Demokrat, befürwortet die Politik der harten Hand gegen die sozial Schwächsten. Wo sie hin sollen, sagt er aber nicht.
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