In wenigen Tagen ist es wieder soweit: Hunderte Freiwillige von rund 400 Sozialverbänden ziehen im Jänner durch US-Städte, um ein Bild von denen zu zeichnen, die als Verlierer der Leistungsgesellschaft übergeblieben sind: Obdachlose. Frauen, Männer, Jugendliche und Kinder, die auf der Straße oder in Notunterkünften leben. Die Prognosen sind düster.
Denn schon 2023 hat die Obdachlosigkeit in den USA mit 653.000 Personen einen Rekordstand erreicht. Das sind zwölf Prozent mehr als Anfang 2022. Damals sprach das US-Wohnungsbauministerium von 582.462 Menschen, die mindestens eine Nacht lang ohne Dach über dem Kopf waren. Der Anstieg von rund 70.000 binnen nur eines Jahres hat Experten alarmiert: Steigende Mieten, kaum verfügbarer sozial geförderter Wohnraum, auslaufende Corona-Hilfen und eine neue Welle von Zwangsräumungen, wachsende illegale Einwanderung und die grassierende Drogenkrise rund um Fentanyl würden einen gefährlichen Cocktail mit hoher sozialer Sprengkraft ergeben“, sagen Stadtentwickler.
„Silver Tsunami“
Neben bekannten Facetten – etwa der überdurchschnittlichen Betroffenheit von Militär-Veteranen – haben aktuellen Untersuchungen ergeben, dass den USA ein „Silver Tsunami“ droht: Mehr als ein Viertel aller Obdachlosen war in diesem Jahr in der Altersklasse 54 plus. Mit Blick auf Millionen „Babyboomer“ (Jahrgänge bis 1964), die in Kürze ins Renten-Alter kommen, werde sich die Situation der Obdachlosigkeit von älteren Menschen „voraussichtlich nochmals dramatisch verschärfen“, heißt es im Wohnungsbau-Ministerium.
Aber auch am anderen Ende der Alterspyramide gibt es Probleme: Die Zahl wohnungsloser Jugendlicher ist 2023 um 15 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen. Gut ein Drittel der Menschen ohne Bleibe in den USA ist in Kalifornien zu finden. Metropolen wie Los Angeles und San Francisco kommen jeweils auf mehr als 70.000 „homeless people“. Allein in der Innenstadt von San Francisco haben sich rund 8.500 Menschen in Zelten oder mit Plastikplanen-Verhauen auf dem Asphalt eingerichtet. „Bei Durchschnittsmieten von 2.000 Dollar für spartanisch eingerichtete Einraum-Wohnungen kein Wunder“, hieß es im San Francisco Chronicle.
In L. A. versucht die demokratische Bürgermeisterin Karen Bass mit viel Geld, die Misere abzumildern. Für den Bau von Übergangsunterkünften sollen in den nächsten Jahren 1,3 Milliarden Dollar bereitgestellt werden. Die Ankündigung stößt aber an der „Front“ auf Skepsis. „Front“, das heißt in Los Angeles seit mehr als 100 Jahren „Skid Row“, ein rund 50 Häuser-Block großes Gebiet in Downtown. Zwischen 5.000 und 8.000 Menschen leben hier inmitten einer der reichsten Städte der Welt im Elend.
Die Entwicklung geht auch in anderen Städten ins Negative, seit die Corona-Pandemie viele Citys nachhaltig verwaist hat, weil Geschäftsleute und Büro-Belegschaften nicht mehr zurückgekehrt sind und die Ärmsten der Armen in das Vakuum stoßen. Bekannte Destinationen wie Indianapolis, Cleveland, St. Louis oder Phoenix haben im Stadtzentrum große Probleme. Überall dominiert das gleiche Phänomen: der Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Immobilien-Investoren sprechen bereit von einem „Doom Loop“, einer „Todesspirale“, in der sich viele Städte befänden .
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