Die "Golden City" kämpft mit Obdachlosigkeit, Abwanderung und Kriminalität. Gleichzeitig gibt der Aufstieg von KI dem Silicon Valley Auftrieb.
29.07.23, 17:00
aus Washington Dirk Hautkapp
"San Franciscos Innenstadt sieht aus wie nach einer Zombie-Apokalypse. Wer nicht hier war, kann sich das gar nicht vorstellen." Der Satz stammt von Elon Musk, der seit einiger Zeit mit spärlichem Erfolg als Eigentümer von Twitter sozusagen Promi-Anrainer der Misere ist.
Die Zentrale des strauchelnden Kurzmitteilungsdienstes liegt an der Market Street. Die einst pulsierende Meile ist zum Sinnbild des Verfalls der Stadt am "Golden Gate" geworden. Corona hat hier (wie in anderen innerstädtischen Lagen Amerikas auch) Geisterstadt-Effekte ausgelöst.
In den glitzernden Bürotürmen haben große Firmen, nicht zuletzt Twitter, Hunderte Etagen aufgegeben. Der Leerstand beläuft sich laut Rathaus auf über zwei Millionen Quadratmeter. Platz genug, sagen die Immobilien-Experten von "Lee & Associates", um 100.000 Angestellte mit Schreibtischen zu versorgen. Büro-Juwele wie der Tower mit der Hausnummer 250 "California Street", der vor Corona über 300 Millionen Dollar gekostet hat, sind heute nur noch knapp 60 Millionen wert.
Kaum Menschen
Selbst am helllichten Tage sieht man in "downtown" kaum Menschen. Nach 17 Uhr übernimmt das urbane Prekariat das anarchische Kommando. Drogenkranke und Heimatlose schleppen sich an den Häuser-Fassaden entlang, wenn es denn der lähmende Fentanyl-Rausch zulässt.
Etliche Geschäfte haben inzwischen geschlossen, weil sich nicht nur Überfälle und Kleinkriminalität häuften. Bei Einbruch der Dunkelheit kommt es immer wieder – gerade in den Drogerie-Märkten, die Dinge für den täglichen Bedarf verkaufen – zu regelrechten Plünderungen. Bizarr: Die Hehlerware wird oft anderntags in Stadtvierteln, die ein paar Bushaltestellen entfernt liegen, auf offener Straße verhökert.
"Whole Foods", die zu Amazon gehörende Edel-Lebensmittelkette, wo sich bis vor Kurzem gut bezahlte "Techies" mit Bio-Gouda und fangfrischem Red Snapper eindeckten, hat seinen Vorzeige-Laden an der Market Street darum bereits aufgegeben. Matt Gutman vom TV-Senders ABC sagte neulich vor laufender Kamera, ihm sei davon abgeraten worden, seine Livereportage vom "Union Square" oder dem gerade geschlossenen Einkaufszentrum zu starten: "Es sei zu gefährlich, hat man uns gewarnt." London Breed, die im nächsten Jahr um ihre Wiederwahl fürchtende demokratische Bürgermeisterin, räumt ein: "Wir haben eine große Kraftanstrengung vor uns."
Bürostandort-Absturz
Vor allem der Absturz als Premium-Bürostandort hat die Wertschöpfungskette in San Francisco durchtrennt. "Wenn pro Tag an die 160.000 weniger Arbeitspendler in die City kommen als noch vor zwei Jahren", sagen Statistiker an der Universität Berkeley, "dann macht sich das in fast allen Wirtschaftszweigen bemerkbar."
Die Konsequenz: Steuer-Einnahmen brechen brutal ein. Bis 2028 wird ein Minus von bis zu 1,3 Milliarden Dollar im städtischen Haushalt befürchtet, hat die Finanzverwaltung kalkuliert. Weitere Kürzungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge würden die Folge sein – was die Abwärtsspirale wohl noch weiter beschleunigen wird.
Heißt: Zu den 8.500 Obdachlosen, die heute rund um die Market Street und den angrenzenden Tenderloin-Distrikt auf der Straße leben, werden viele Hundert hinzukommen. Gewalt und Drogentod in dieser Szene, bestätigt die Polizei, haben stark zugenommen. Allein im ersten Quartal dieses Jahres starb alle zehn Stunden ein Obdachloser an einer Überdosis.
Unternehmen ziehen auf der Suche nach niedrigeren Steuerquoten, billigeren Lebenshaltungskosten und weniger staatlicher Gängelung reihenweise nach Texas oder Florida, diese Entwicklung hat sich im Nachgang der Pandemie verstärkt. San Francisco, über Jahrzehnte Sehnsuchtsort und liberales Freiheitsversprechen, verlor 2021 und 2022 zusammengerechnet rund sieben Prozent seiner Bevölkerung. Ein Grund: das soziale Gefüge.
Unter rund 105.000 Dollar (95.000 Euro) Jahreseinkommen liegt eine Familie in der Region offiziell unter der Armutsgrenze, die USA-weit im Schnitt bei 27.000 Dollar gezogen wird. Wer halbwegs solide leben will, muss für eine bescheidene Bleibe im Großraum San Francisco im Schnitt 3.500 Dollar Miete im Monat hinlegen. Eine Vier-Zimmer-Wohnung kann leicht 8.000 Dollar und mehr kosten. Es gibt den Lösungsvorschlag, die Büro- zu Wohntürmen umzubauen, doch niemand will substanziell investieren.
KI aus dem Silicon Valley
Gleichzeitig ist die Gegenbewegung nicht zu leugnen. Seit dem von Microsoft geboosteten Aufstieg der Künstlichen-Intelligenz-Schmiede "Open AI", die mit dem Sprachprogramm "ChatGPT" weltweit für Furore sorgt, kennen die Investitionen in KI-Projekte kaum Grenzen. Im ersten Halbjahr 2023 sollen im südlich von San Francisco gelegenen Silicon Valley nach Branchen-Angaben über 15 Milliarden Dollar investiert worden sein. Das Gros der Empfänger sitzt in San Francisco. In Stadtteilen abseits des Zentrums sehen Anrainer einen "neuen Gründergeist" rund um das Thema KI.
Auf diesen Zug will auch der europäische Software-Riese SAP springen. Mitten im Krisengebiet, im Stadtteil "South of Market", wurde gerade auf 3.000 Quadratmetern ein neues Büro für 500 Mitarbeiter eröffnet.
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