US-Präsident Biden: Schwer ramponiert ins zweite Amtsjahr
Es gibt Tage, da würden auch Präsidenten, wenn sie denn könnten, lieber die Bettdecke über den Kopf ziehen und unsichtbar bleiben. Für Joe Biden ist der heutige Donnerstag so ein Tag. Am Ende des ersten von vier Amtsjahren wirkt der Mann, der versprach, Amerika zu versöhnen und mit ruhiger Hand aus den Chaos-Jahren unter Trump zu führen, für manche US-Beobachter „wie ein Korken auf tosenden Wellen“.
In der Bevölkerung schickt sich eine stabil werdende Mehrheit um die 60 Prozent an, dem 79-Jährigen quer durch alle Politikfelder noch weniger Vertrauen entgegen zu bringen als seinem Vorgänger Donald Trump. Die Erleichterung nach der Wahl 2020, mit Biden eine Nachspielzeit des Systemsprengers Trump vermieden zu haben, hat sich weitgehend in Luft aufgelöst.
Wählerschichten, die ihn ins Amt gebracht haben, vor allem junge Leute, Schwarze und gebildete Frauen in den Vorstädten, wenden sich demoralisiert ab.
"Fehlender Realitätssinn"
Bidens eigene Partei, die Demokraten, bemängelt in Teilen „fehlenden Realitätssinn“ beim Präsidenten, der manchmal „Undurchsetzbares durchsetzen“ wolle. Moderate und Linksaußen-Vertreter zerren dabei gleichermaßen an ihm.
Weil man bei den Zwischenwahlen im Kongress im November eine krachende Niederlage fürchtet, werden schon heute verzweifelt mögliche Biden-Alternativen für die Präsidentenwahl 2024 ventiliert (und auch Alternativen für seine Vizepräsidentin Harris).
Pleiten, Pannen und Misserfolge
In der Woche vor dem Ende der ersten Jahresetappe kam es für den ehemaligen Vizepräsidenten unter Barack Obama besonders dick: Mit sieben Prozent wurde die höchste Inflationsrate seit 40 Jahren gemeldet. Der Oberste Gerichtshof zerschoss mit seiner von Trump installierten konservativen Mehrheit den Plan des Weißen Haues, eine Corona-Impfpflicht für die Belegschaften großer Unternehmen einzuführen, als verfassungswidrig.
Gleichzeitig stehen vor Feuerwachen und Büchereien zigtausende Amerikaner Schlange, um einen kostenlosen Corona-Test abzugreifen; die kommerziell verfügbaren sind obszön teuer und weitgehend vergriffen.
Versuche Bidens und seiner Partei, die Wahlgesetze gegen klandestine Attacken der Republikaner wetterfest zu machen, scheitern am Widerstand aus den eigenen Reihen.
Und die mit Europa konzertierten Versuche, Russlands Präsidenten Wladimir Putin von militärischen Dummheiten in der Ukraine abzuhalten, stecken im diplomatischen Niemandsland fest.
In der Liste der Pleiten, Pannen und Misserfolge ist bereits eingepreist, dass die Zahl der illegalen Übertritte an der Grenze zu Mexiko mit fast 1,8 Millionen binnen eines Haushaltsjahres rekordverdächtig ist; dass von einer versprochenen Reform der Einwanderung ebenso wenig zu spüren ist wie von einer überfälligen Verschärfung der tödlich laxen Waffengesetze. Und dass die Ankündigung, hoch verschuldeten Amerikanern bei der Tilgung ihrer Studenten-Kredite substanziell unter die Arme zu greifen, sang- und klanglos einkassiert wurde. Was ebenso für die in Aussicht gestellte Erhöhung des Mindestlohns von landesweit 7,25 Dollar pro Stunde gilt.
Am 3. November 2020 wurde Joe Biden zum 46. US-Präsidenten gewählt. Er erzielte 51,3 Prozent der Stimmen, der damalige Amtsinhaber Donald Trump 46,9 %. Der Republikaner behauptet bis heute, dass ihm die Wahl gestohlen wurde, und wird 2024 möglicherweise erneut antreten.
Am 8. November 2022 finden die sogenannten Midterm-Elections (Zwischenwahlen) statt. Alle Sitze im Repräsentantenhaus sowie ein Drittel der Sitze im Senat werden dabei neu vergeben.
Versprechen als Angriffsfläche
Apropos Versprechen: Hier liegt nach Ansicht vieler Analysten Joe Bidens große Angriffsfläche. Gespeist aus dem in 36 Senatsjahren gereiften Glauben, jederzeit parteiübergreifenden Konsens stiften zu können, verspricht der Polit-Senior oft Dinge, die er realpolitisch nicht gestemmt kriegt.
Warum? Es gibt de facto keine Kompromissbereitschaft der Republikaner. Und in den eigenen Reihen werden Bidens Überredungskünsten jeden Tag brutal Grenzen aufgezeigt. Siehe Wahlrechtsreform: Hier stehen zwei demokratische Senatoren auf der Bremse. Auch Bidens zweites Großvorhaben, die partielle Umwandlung der USA in einen europäischen Sozialstaat mit klimafreundlicher Industrie, werden sie kippen.
In dieser Gemengelage geht unter, dass Biden mit dem billionenschweren Infrastruktur-Paket ein geschichtsbuchträchtiger Erfolg gelungen ist. Erst wenn die Dritte-Welt-Qualität von Brücken, Autobahnen, Strom-Netzen und Wasserleitungen in zehn Jahren wegsaniert ist, wird man sich daran erinnern.
Politische Fußfesseln
Weil in neun Monaten der Kongress neu gewählt wird, bleibt Präsident Nr. 46 nur ein bescheidenes Zeitfenster bis zum Frühsommer, um den Genossen Trend zu schlagen. Denn übernähmen die Republikaner im Parlament das Ruder, trüge Biden bis Ende 2024 politische Fußfesseln, die ihn nahezu bewegungsunfähig machen würden.
Corona in den Griff zu kriegen, vor allem die mickrige Impfquote (63 %) zu heben, und die Mega-Inflation zu bändigen, wird in den nächsten Wochen das „wichtigste Thema im Weißen Haus sein“, sagen Regierungsoffizielle.
Vor allem die hohe Inflation nagt an der Zuversicht vieler Amerikaner. „Wenn die Preise für das tägliche Leben, von der Tankstelle bis in die teilweise leer gekauften Supermärkte, 30 bis 40 Prozent und mehr gegenüber dem Vorjahr zulegen, spielen höhere Löhne keine Rolle mehr“, sagte ein Justiz-Angestellter in Washington dem KURIER. Das anerkannte Meinungsforschungsinstitut Quinnipiac bescheinigte Biden kürzlich eine katastrophale Zustimmungsquote von nur noch 33 Prozent.
Vielleicht bliebe er heute besser im Bett.
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