Biden muss heilige Kuh schlachten, um Trump zu verhindern
Viele US-Kommentatoren waren sich einig: Joe Biden hat am Jahrestag der Erstürmung des Kapitols die kraftvollste Rede seiner Präsidentschaft gehalten. Er hat am 6. Jänner die Verantwortung seines Vorgängers Donald Trump für den Beinahe-Staatsstreich herausgearbeitet. Er hat dessen Lüge von der „gestohlenen Wahl“ zerfleddert. Und er will verhindern, dass der waidwunden US-Demokratie ein zweites Mal der „Dolch an die Kehle“ gesetzt wird“.
Allein: Anti-Trump-Rhetorik, die bei mindestens 50 Millionen Wählern auf völlig taube Ohren stößt, „wird die Rückkehr des Rechtspopulisten 2024 nicht verhindern“, heißt es in Meinungsbeiträgen großer Zeitungen.
Stattdessen seien die Demokraten aufgefordert, mit ihren knappen Mehrheiten im Kongress den Republikanern einen Riegel vorzuschieben.
Unter dem Vorwand, die angebliche Betrugsanfälligkeit von Wahlen zu reduzieren, frisieren die Konservativen gerade in über 20 Bundesstaaten die Wahlgesetze so, dass ein Demokrat bei den Präsidentschaftswahlen in zwei Jahren laut Experten kaum mehr eine Chance hätte.
Zur Abhilfe haben die Demokraten bereits vor Monaten zwei Wahlgesetze auf den Weg gebracht, den „Freedom to Vote Act“ und den „John Lewis Voting Rights Act“, die im Repräsentantenhaus bereits verabschiedet wurden. Sie würden landesweit Standards setzen und verhindern, dass bestimmte Wählerschichten (Afro-Amerikaner etc.) benachteiligt und etwa die Briefwahl erschwert würde. Politischer Einfluss auf die Auszählung der Stimmen und auf die Zusammensetzung des „electoral college“, das letztlich den Präsidenten wählt, wäre minimiert.
Patt im Senat
Das Paket aber hängt im Senat fest. Dort stehen sich Republikaner und Demokraten in einem 50:50 Stimmen-Patt gegenüber. Für die Verabschiedung der an den Grundfesten des Systems ansetzenden Gesetze sind nach über 100 Jahre alter Tradition des sogenannten Filibusters 60 von 100 Stimmen nötig. Aussichtslos. Kein Konservativer trägt das Konzept der Regierungspartei mit.
Nur wenn die „heilige Kuh“ des Interessenausgleichs (Filibuster, eine Sperr-Minorität, die der Minderheit erlaubt, Gesetzesvorhaben der Mehrheit zu blockieren) geschlachtet wird, kann es funktionieren. Dann könnten die Demokraten nominell mit einfacher Mehrheit – 50 plus 1 Stimme (Vizepräsidentin Kamala Harris) – durchziehen, das Treiben der Republikaner neutralisieren und so dem massiven Drängen von diversen Bürgerrechts-Organisationen nachkommen.
Joe Biden, über 35 Jahre selbst Senator gewesen, hat die wegen ihrer politischen Sprengkraft „nukleare Option“ genannte Reform immer gescheut. Weil die Republikaner bei einer Machtübernahme im Senat garantiert Retourkutschen reiten würden. Und weil der Schritt parteiübergreifende Zusammenarbeit de facto unmöglich machen würde.
„Bedrohung groß“
An der Wirkungsstätte des Bürgerrechtlers Dr. Martin Luther King hat Biden am Dienstag eine spektakuläre Kehrtwende vollzogenen. „Die Bedrohung für unsere Demokratie ist so groß, dass wir einen Weg finden müssen, diese Wahlrechtsgesetze zu verabschieden“, sagte er in Atlanta/Georgia, „wenn das absolute Minimum blockiert wird, dann haben wir keine andere Wahl, als die Senatsregeln zu ändern, und das umfasst auch, den Filibuster dafür loszuwerden.“
Mit seinem Plädoyer investiert der in Umfragen stark unter Druck stehende Präsident erhebliches politisches Kapital. Mindestens zwei Demokraten – die Senatoren Joe Manchin (West Virginia) und Kyrsten Sinema (Arizona) – wollen bisher eisern am Filibuster festhalten. Kann Biden nicht liefern, sei „sein Rest von Glaubwürdigkeit“ dahin, sagt die demokratische Linke.
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