Dass Biden dies exakt an einem Ort tut, der vor zwei Wochen durch Zerstörung, Tod und blinden Hass auf die Demokratie Weltgeschichte schrieb, wirkt im Rückblick immer noch unwirklich. Dagegen sind die Nachwirkungen des Sturms auf das Kapitol durch einen von Trump inspirierten Mob sehr real. Auf der National „Mall“, der grünen Oase zwischen Kapitol und Lincoln Memorial, ersetzte ein Fahnenmeer die üblichen Menschenmassen, die hier für gewöhnlich dem neuen Präsidenten zujubeln.
Auf der Pennsylvania Avenue, die vom Parlament zum Weißen Haus führt, gab es später keine Parade mit Tanzgruppen und Musik-Kapellen, die dem Machtwechsel einen lockeren Anstrich von Karneval hätten geben können. Und auf der Tribüne hinter Biden saßen statt der üblichen 2.000 nur etwa zweihundert geladene Gäste; Corona-getestet, mit Schutzmasken und viel Abstand zueinander. Darunter, mit Ausnahme des vorher nach Florida abgereisten Donald Trump, bis auf Jimmy Carter (96) alle noch lebenden Ex-Präsidenten der USA samt Gattinnen.
Corona und die authentische Angst, dass gewaltbereite Anhänger Trumps auch Bidens Inauguration stören könnten, wie dies in einschlägigen Internet-Zirkeln diskutiert wurde, hat die Feierlichkeiten auf das absolute Minimum reduziert. Und Washington selbst in eine hypermilitarisierte Zone mit 26.000 Nationalgardisten.
Die eng getaktete Zeremonie begann mit Reverend Leo O’Donovan. Der 87 Jahre alte Jesuit, der in Münster studiert hat, sprach das Bittgebet. Danach sang die ganz ihn Schwarz und Tüll-Pink gewandete Pop-Ikone Lady Gaga die National-Hymne „Star Spangled Banner“, die Feuerwehr-Frau Andrea Hall steuerte – auch in Gebärdensprache – den Fahnen-Eid „Pledge of Allegiance“ bei. Danach wurde es erstmals förmlich: Vizepräsidentin Kamala Harris sprach ihren Amtseid. Die 56-Jährige mit indisch-jamaikanischen Wurzeln ist damit die erste schwarze Vizepräsidentin der USA.
Wie zur akustischen Verstärkung des historischen Moments der Diversität sang Jennifer Lopez, ganz in Weiß, „This Land is your Land“ und den Standard „America the Beautiful.“ Bevor Biden vor John Roberts trat und den Amtseid schwor. Ein Kuss von First Lady Jill Biden war sein erster Lohn.
Biden setzte danach in seiner Antrittsrede den Ton, mit dem er fortan an Statur gewinnen will. Viel war von Demut, Versöhnung und Mitgefühl die Rede. Von einem Gemeinwesen mit Charakter, das gerade in der Krise Standhaftigkeit beweist und auf den Einsatz der Regierung und des Einzelnen angewiesen ist. „Das ist der Tag der Demokratie, der Erneuerung und Entschlossenheit“, rief Biden. Seine Rede war von Nüchternheit geprägt, über die Herausforderungen im Inneren wie nach außen.
Der 78-Jährige machte kein Hehl daraus, wie schwer es sein wird, die „kaskadenhaften Krisen“ von Corona über soziale Ungerechtigkeit und systematischen Rassismus zu überwinden. Es gebe viel „Wut“ im Land. Mancher würde seinen Willen, die USA zu einen („Meine ganze Seele liegt darin“) als „verrückte Fantasie“ abtun. Aber: „Ohne Einheit gibt es keinen Frieden, keinen Fortschritt.“ Es müsse Schluss sein mit dem internen Bürgerkrieg, mit „Land gegen Stadt“, mit „Demokraten gegen Republikaner“. Mit „Toleranz und Bescheidenheit“ könne es gelingen, die Gräben zu überwinden.
Mehrfach reichte Biden jenen die Hand, die ihn nicht gewählt haben. „Ich werde der Präsident aller Amerikaner, aller Amerikaner sein“, beteuerte er. Am Schluss der Rede sang Country-Star Garth Brooks eine wundervolle Version von „Amazing Grace“. Die erst 22 Jahre alte Amanda Gorman läutete mit dem Gedicht „The Hill We Climb“ (Den Hügel, den wir erklimmen) das Ende der Zeremonie ein, die durch den kraftvoll donnernden Segen von Reverend Silvester Beaman beschlossen wurde.
Kommentare