Ukraine-Krieg: Im Sommer droht große Flüchtlingswelle
Der Nothilfekoordinator der Hilfsorganisation "Jugend Eine Welt", Wolfgang Wedan, rechnet mit einer neuen Flüchtlingswelle aus der Ukraine im Sommer.
"Man geht davon aus, dass eine Flüchtlingswelle kommen wird, wenn die Bombardierung so weitergeht", sagte Wedan im APA-Gespräch nach einem Besuch in der Hafenstadt Odessa. Im benachbarten Moldau bereite man sich für Juni oder Juli darauf vor. Der Umfang des Flüchtlingsstroms werde "sicher im fünfstelligen Bereich" sein.
Der gebürtige Steirer wies darauf hin, dass Odessa derzeit besonders von russischen Angriffen betroffen sei. Anders als zu Beginn des Krieges seien nicht nur Infrastruktureinrichtungen im Visier, sondern auch Wohnhäuser. Gerade in mehrstöckigen Gebäuden sei es bei Angriffen kaum möglich, rechtzeitig Schutzkeller zu erreichen. Die von der annektierten Halbinsel Krim abgeschlossenen Raketen bräuchten nämlich gerade einmal 120 Sekunden, um die Millionenstadt zu erreichen. Das auch von 100.000 bis 120.000 Vertriebenen aus anderen Landesteilen bevölkerte Odessa habe seine sprichwörtliche Leichtigkeit verloren, berichtete Wedan von einer starken Desillusionierung der Bewohner.
"Es kommt immer mehr das Gefühl auf, der Westen lässt uns im Stich"
"Es kommt immer mehr das Gefühl auf, der Westen lässt uns im Stich", schilderte der Nothelfer die Stimmungslage. Im Fokus stünden dabei vor allem Deutschland und die USA, von Ländern wie Frankreich oder Großbritannien habe man sich nämlich nie wirklich etwas erwartet. Große Angst hätten die Menschen vor einem Sieg des republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump bei der Wahl im November. Schließlich sei man überzeugt, dass man ohne den Westen verloren sei und dann die ganze Ukraine russisch werde.
Zwar steige der ukrainische Nationalstolz nach jedem Angriff, doch bröckle der Rückhalt für das offizielle Kriegsziel, die Russen aus dem gesamten Land zu verjagen. Die Menschen wünschten sich vor allem einen baldigen Frieden, so Wedan. "Hinter vorgehaltener Hand wird gesagt: Frieren wir den Krieg ein und reden wir." Auch den Verlust der Halbinsel Krim habe man "schon akzeptiert", sagte der Nothilfe-Koordinator. Selbst Flüchtlinge aus russisch besetzten Gebieten wollten dorthin zurückkehren, wenn es nur Frieden gebe. Wedan berichtete weiter, dass sich junge Männer aus Angst vor der Zwangsrekrutierung nicht mehr aus ihren Häusern trauen würden. "Es werden Autobusse aufgehalten und nach Wehrfähigen durchsucht."
"Weißes Gold": Es mangelt an Waschpulver
In Odessa unterstützt "Jugend Eine Welt" unter anderem eine Neugeborenenstation in einem Krankenhaus mit Einrichtung. Zudem werden verschiedene Hilfsgüter geliefert, etwa Powerbanks zur Stromversorgung von unterirdischen Schulklassen, aber auch Essenskörbe und Hygieneartikel für Frauen. Das "weiße Gold" der Ukraine sei derzeit Waschpulver, an dem es im ganzen Land mangle. Im Vorjahr habe es Schuhknappheit gegeben, woraufhin die Organisation gemeinsam mit einem bekannten niederösterreichischen Schuhproduzenten eine Lieferung organisiert hatte.
"Jugend Eine Welt" ist weltweit im Hilfseinsatz, wobei es sich eines starken lokalen Netzes aus Ordensleuten der Salesianer Don Boscos bedient. Diese würden die Gegebenheiten an Ort und Stelle sehr gut kennen, erläuterte Wedan. So sei es zu Kriegsbeginn auch dazu gekommen, in Odessa zu helfen. Andere NGOs seien stark auf Kiew oder Lemberg (Lwiw) orientiert gewesen. Bei Odessa sei zu erwarten gewesen, dass mit Verlauf des Krieges der Bedarf auch aufgrund von internen Fluchtbewegungen zunehmen werde. Russland sei militärisch so stark auf die Stadt fokussiert, weil es dort die Lücke zur pro-russischen moldauischen Region Transnistrien schließen und die ganze ukrainische Schwarzmeerküste unter Kontrolle bringen könne.
Betreuung von Kindern
Besondere Bedeutung habe auch die psychosoziale Betreuung von Kindern. Viele seien traumatisiert, und wenn sie nicht behandelt werden, könnte eine verlorene Generation heranwachsen, warnte Wedan. Er selbst habe acht Monate lang in einem Flüchtlingslager für Ukrainer in der Republik Moldau gelebt, wo "Jugend Eine Welt" aus Sicherheitsgründen ihr Ukraine-Büro eingerichtet hat. Dabei habe er nicht nur den Alltag der Flüchtlinge kennen gelernt, sondern auch zahlreiche Aufnahmen von Kriegsgräueln gesehen. Die Flüchtlinge seien nämlich ständig mit ihren Angehörigen in der Ukraine in Kontakt. Wenn dieser Kontakt aufgrund von Internetproblemen im Flüchtlingslager abgerissen sei, habe es sofort Unruhe gegeben, schilderte der Helfer.
Man wollte weiter helfen, wenn es genügend Mittel gebe, so Wedan, der in diesem Zusammenhang die Spendenmüdigkeit aufgrund der Länge des Konflikts beklagte. "Jugend Eine Welt" ist stark auf Kleinspender angewiesen, die sich ihre Zuwendungen in wirtschaftlich schwierigen Zeiten buchstäblich vom Mund absparen. Ausbaufähig scheint dagegen das Engagement von Vermögenden und Unternehmen. Viele Firmen wüssten etwa nicht, dass Spenden für die Ukraine auch für Unternehmer vollständig von der Steuer absetzbar sind, weil sie als Katastrophenhilfe gelten.
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