Selenskij führt Scholz vor: Keine Taurus-Lieferungen "aus Furcht vor Putin"

Berlin und Kiew, das ist eine komplizierte Geschichte. In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn galt Deutschland international als Zauderer, der lieber Helme als Granaten in die Ukraine schickte. Nach und nach rehabilitierte sich Scholz‘ Regierung, stieg sogar zum zweitgrößten Waffenlieferanten nach den USA auf.
Und dann kam Taurus.
Seit Monaten windet sich Olaf Scholz, weil er die dringend benötigten Marschflugkörper nicht an die Ukraine liefern will. Erst gab er keine Begründung, da stiegen ihm Opposition und auch Koalitionspartner auf die Zehen. Dann sagte er, die Waffen könnten nur von deutschen Soldaten bedient werden, das wäre quasi eine direkte Kriegsbeteiligung. Das stellte sich als unwahr heraus.
Daraufhin sagte er, es gehe ihm um die Kontrolle des Einsatzes – also darum, dass die 500-Kilometer-Reichweiten-Waffe nicht für Ziele in Russland oder "gar in Moskau" eingesetzt, wie Scholz sagte - sprich Putin nicht provoziert werde.
Jetzt behauptet Kiew aber etwas ganz anderes.
Putins Drohung als Grund
"Scholz sagte mir, dass er wegen Putins Atomdrohungen kein Taurus liefert“, sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij in einem Interview mit der Bild. „Soweit ich verstanden habe, glaubt der Kanzler, dass dies die einzige Waffe ist, die Deutschland hat.“ Er könne die Bundeswehr nicht ohne Taurus lassen, habe Scholz ihm gesagt – dies sei die einzig mögliche Abschreckung, weil Deutschland keine Atommacht ist.
Das ist durchaus unangenehm für den Kanzler, denn das widerspricht seinen eigenen Aussagen komplett. Dass Berlin die Waffen brauche, um Putin von einem Angriff auf Deutschland abzuhalten, hat Scholz immer öffentlich abgetan. Das legt nahe, dass er hinter den Kulissen etwas anderes sagt als öffentlich – und die Angst vor einem Angriff Putins auf Deutschland durchaus existiert.

Der Marschflugkörper Taurus KEPD-350, von dem die deutsche Bundeswehr seit 2004 insgesamt 600 erhalten hat, hat eine Reichweite von 500 Kilometern und kann Bunker sowie andere gut gesicherte Anlagen wie Munitionsdepots oder Kommandoposten zerstören. Seit Monaten gibt es ukrainische Forderungen nach Lieferung dieser Waffe. Kanzler Olaf Scholz lehnt dies entschieden ab.
Der fünf Meter lange Marschflugkörper wird von Kampfflugzeugen aus gestartet, er orientiert sich dabei anhand von Daten über die Geländebeschaffenheit und gleicht seinen Standort über Bild- und Infrarotsensoren sowie GPS-Navigationsdaten ab. Taurus kann dabei feindliches Radar mit hoher Geschwindigkeit in weniger als 50 Metern Höhe unterfliegen.
Beim Aufschlag sprengt eine erste Ladung eine Lücke in die Wand oder Decke der Ziele. Durch diese dringt dann ein 400 Kilogramm schwerer und mit Sprengstoff gefüllter Metallstab ein und explodiert.
Beschuss von russischem Staatsgebiet
Mit der Reichweite von mehr als 500 Kilometern könnten die Marschflugkörper auch russisches Staatsgebiet von der Ukraine aus erreichen und etwa dortige Waffendepots und Kommandozentren zerstören. Der mögliche Beschuss von russischem Staatsgebiet ist ein Grund für Bundeskanzler Scholz, der Lieferung bisher nicht zuzustimmen.
Als weiteren Grund nennt Scholz die Notwendigkeit deutscher Hilfe bei der Zielführung der Marschflugkörper, durch die Deutsche direkt an den Einsätzen beteiligt wären. Die Koalitionspartner Grüne und FDP sowie die oppositionellen Unionsparteien plädieren offen für Taurus-Lieferungen an die Ukraine.
Der seiltanzende Friedenskanzler
Scholz hat sich seit Kriegsausbruch immer als Seiltänzer präsentiert, der Hilfe leistet und Putin die Stirn bietet, ohne dabei rote Linien zu überschreiten. In seiner eigenen Partei hat ihm das den Beinamen „Friedenskanzler“ eingebracht; eine Rolle, die Teile der Partei gern stärker propagiert sähen: Seit geraumer Zeit verfallen Teile der Partei wieder in ihre alte Russland-Politik, fordern die Annäherung an den Kreml.
Ihnen passt Scholz‘ Friedensliebe bestens ins Konzept, aber auch in den nächsten Wahlkampf. Die SPD ist mit 15 Prozent auf Tiefstniveau, während das Wagenknecht-Bündnis und vor allem die AfD im Aufwind sind – auch wegen ihrer Russlandnähe.
Grüne und FDP halten ihrem Koalitionspartner SPD vor, dass Scholz' Zurückhaltung Putin nur anstachle. „Auch Zögern und Zaudern kann am Ende zur Eskalation beitragen“, meinte etwa die grüne Abgeordnete Agnieszka Brugger. Scholz argumentiert hingegen, mit einem anderen im Kanzleramt wäre Deutschland vielleicht schon im Krieg. „Das ist eine Grenze, die ich als Bundeskanzler nicht überschreiten will", sagte Scholz im März. „Ich habe die Verantwortung zu verhindern, dass Deutschland in diesen Krieg hineingezogen wird".
Ob er das weiter so sagen wird, muss sich erst zeigen. Geäußert hat er sich zu Selenskijs Aussage jedenfalls noch nicht.
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