Gegenoffensive: Den Ukrainern läuft die Zeit davon

Gegenoffensive: Den Ukrainern läuft die Zeit davon
Die Ukraine meldet weitere Erfolge bei ihrer Gegenoffensive. US-Generalstabschef Mark Milley mahnt gewisse Eile ein.

Die Ukraine meldet neue Erfolge bei ihrer Gegenoffensive gegen die russischen Invasionstruppen. Sowohl an der Ost- als auch an der Südfront hätten die ukrainischen Streitkräfte weitere Gebiete zurückerobert, teilt Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar mit. 

Im Osten seien in der vergangenen Woche rund um die Stadt Bachmut, die im Mai von russischen Truppen eingenommen worden war, fast zwei Quadratkilometer zurückerobert worden. Unter anderem sei ein Teil des Dorfes Opytne südlich der Stadt Awdijiwka in der Region Donezk eingenommen worden.

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Seit Beginn der Offensive vor drei Monaten habe das ukrainische Militär 49 Quadratkilometer in der Nähe von Bachmut befreit.

Im Süden, wo die ukrainische Armee in Richtung Asowsches Meer vorstoßen will, um einen Keil in die russischen Streitkräfte zu treiben, seien in der vorigen Woche 1,5 Quadratkilometer zurückerobert worden.

Hier hätten die ukrainischen Truppen südlich der Ortschaft Robotyne und westlich des Dorfes Werbowe in der Region Saporischschja Erfolge erzielt.

Nach Angaben ihres Militärgeheimdienstes hat die Ukraine auch mehrere Bohrinseln in der Nähe der Halbinsel Krim zurückerobert. Es handle sich um die sogenannten Boiko-Bohrtürme, die seit 2015 von Russland besetzt gewesen seien. Seit Beginn des Kriegs im Februar 2022 habe Russland die Plattformen für militärische Zwecke genutzt.

"In den letzten sieben Tagen gibt es ein Vorankommen", sagte auch Präsident Wolodymyr Selenskij am Sonntag in seiner täglichen Videoansprache. 

Daneben ging der Staatschef auf die starken russischen Raketen- und Drohnenangriffe der vergangenen Tage ein. Er dankte Feuerwehrleuten, Rettungskräften, Polizisten und Freiwilligen, die in den Städten Kostjantyniwka, Krywyj Rih, Sumy und im Gebiet Odessa geholfen haben, Verschüttete aus den Trümmern zu befreien.

In Kostjantyniwka waren bei einem Einschlag 16 Menschen ums Leben gekommen. In Krywyj Rih wurden durch russischen Raketenbeschuss auf eine Polizeistation nach Selenskyjs Angaben eine Person getötet und 60 Menschen verletzt.

Internationale Helfer abgeschossen

Selenskij bestätigte zudem den russischen Beschuss internationaler Helfer der Rettungsorganisation Road to Relief am Sonntag bei Bachmut nahe der Front. Dabei seien ein Kanadier und eine Spanierin ums Leben gekommen, ein Deutscher und ein Schwede seien verletzt ins Krankenhaus eingeliefert worden. "Ihnen wird alle nötige Hilfe geleistet", sagte Selenskij.

Ukrainern läuft die Zeit davon

Nach US-Einschätzung läuft den Ukrainern bei der aktuellen Offensive die Zeit davon. Es bleibe der ukrainischen Armee wahrscheinlich noch 30 bis 45 Tage Zeit, bevor das Wetter die Kampfhandlungen erschweren könnte, sagte US-Generalstabschef Mark Milley am Sonntag dem britischen Sender BBC.

Dies sei "immer noch eine ordentliche Zeitspanne", so Milley. Die Ukrainer hätten stetige Fortschritte erzielt und eine beträchtliche Kampfkraft aufrechterhalten. In etwa einem Monat komme die Kälte, es fange an zu regnen und werde sehr schlammig. "Dann wird es sehr schwierig zu manövrieren sein, und dann kommt der tiefe Winter", sagte Milley.

Im Moment sei es noch zu früh, um zu sagen, ob die Offensive gescheitert sei oder nicht.

Erfolgschance von 40 bis 50 Prozent

Die Ukrainer haben nach Einschätzung des Militärexperten Carlo Masala einem Zeitungsbericht zufolge eine Erfolgschance von 40 bis 50 Prozent, bis zum Ende des Jahres die verbliebenen russischen Abwehrstellungen zu überwinden. "Ja, das ist realistisch", sagte Masala den Zeitungen der Funke-Mediengruppe auf die Frage, ob er die dementsprechende Einschätzung des US-Militärgeheimdienstes Defense Intelligence Agency teile.

"Das hängt allerdings von mehreren Faktoren ab: Wie reagieren die Russen? Haben sie noch genug Reserven? Werden die Ukrainer die relativ kluge Operationsführung beim Durchbruch durch die ersten beiden Verteidigungslinien fortsetzen? Und: Können Sie ihre Verluste minimieren?" Entscheidend sei, dass die ukrainischen Streitkräfte die russischen Verbände in Bewegung halten können. "Wenn ihnen das nicht gelingt, haben die Russen die Möglichkeit, sich wieder einzugraben."

Westen kann nicht alle Wünsche der Ukrainer erfüllen

Die Ukrainer benötigten vor allem Nachschub an Munition, Ersatzteilen und Artilleriesystemen. Zur Kritik des ukrainischen Präsidenten Selenskij, der Westen liefere zu langsam Waffen und gefährde damit die Gegenoffensive, sagte Masala: "Dahinter würde ich ein Fragezeichen setzen. Bestimmte Waffen kann die Ukraine nicht ausreichend aus dem Westen bekommen, weil sie nicht vorhanden sind."

So wünsche sich die Ukraine 500 bis 600 Kampfpanzer. "Die kann der Westen in modernen Systemen nicht liefern, weil er sie nicht zur Verfügung hat. Das gilt zum Beispiel für die Leopard-Panzer vom Typ 2A4 der Bundeswehr." Bei der Verschickung von Munition habe Selenskij jedoch Recht.

"Der Westen fängt erst jetzt an, die Munitionsproduktion richtig hochzufahren. Das ist viel zu spät erfolgt. Und das trifft auch auf die Luftverteidigung im Nahbereich zu. Eines der großen Probleme der ukrainischen Gegenoffensive bestand in der punktuellen Luftüberlegenheit der Russen mit Blick auf die eigenen mechanisierten Verbände." Westliche Kampfflugzeuge wie F16-Jets könnten dazu beitragen, dass die Verluste der Ukrainer minimiert würden. "Darüber hinaus könnten die Ukrainer dann noch stärker mit mechanisierten Verbänden vorgehen, weil diese aus der Luft geschützt werden könnten."

Warnung vor Lockerung der Sanktionen

Der Militärexperte kritisierte angebliche Pläne der Vereinten Nationen (UN), die Regierung in Moskau durch eine Lockerung der westlichen Sanktionen zur Rückkehr zum Getreideabkommen zu bewegen. "Das wäre ein katastrophaler Fehler. Damit würde sich Russland mit einer seiner zentralen Forderungen durchsetzen", erklärte Masala.

"Das käme einem Dammbruch gleich, mit Blick auf die Bemühungen, afrikanische Staaten davon zu überzeugen, dass Russland der Aggressor ist. Die Hungersnot in diesen Ländern wird nur durch Moskau verursacht. Ginge der UN-Vorschlag durch, stünde Russland als Retter da."

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