Druck aus den USA
Nein, finden einige seiner Partner im Westen. Dort kann man die Gründe, warum Wahlen während einer laufenden Invasion hochproblematisch und auch demokratiepolitisch bedenklich sind, durchaus rational verstehen: Wie etwa sollen die Soldaten an der Front wählen, wie kann man westlichen Wahlbeobachtern Sicherheit garantieren, und wie sollen vor allem die Menschen in den besetzten Gebieten an ihr Stimmrecht kommen? Dennoch fürchtet der Westen etwas anderes: Dass Selenskij, der selbst gern davon spricht, in der Ukraine westliche Werte und „die Demokratie an sich zu verteidigen“, durch eine Absage die Demokratie mehr schädigt als schützt.
Direkt ausgerichtet hat ihm das zuletzt der Senator Lindsey Graham, einer seiner aktivsten Unterstützer in den Reihen der den Republikaner. Bei einem Besuch in Kiew sagte er neben dem Präsidenten, dass er sich – im Gegenzug für Waffen – auch etwas von ihm wünsche: „Dass dieses Land freie und faire Wahlen hat, auch wenn es angegriffen wird.“
"Aussetzung der Demokratie"
Getrieben wird Graham von rechten Hardlinern wie etwa dem ehemaligen Fox-Star Tucker Carlson, der Selenskijs Wahl-Dilemma hämisch als „Aussetzung der Demokratie“ betitelt. Aber auch aus Deutschland kommen leise Signale, die Wahlen doch durchzuziehen – Olaf Scholz messe den „regulären Wahlen hohe Bedeutung bei“, ließ Berlin kürzlich in sperrigem Beamtendeutsch wissen.
Selenskij steckt in einer Zwickmühle, und ihn nervt das Thema offensichtlich. Als Natalija Mosejtschuk, einer der populärsten TV-Anchors des Landes, ihn zuletzt danach fragte, sagte er nur schmallippig: „Wahlen gibt es nur dann, wenn die USA und die EU das finanzieren. Ich werde das Geld nicht unserem Militär wegnehmen.“
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Kein Wahlkampf möglich
Tatsächlich ist es so, dass Kiew das Geld an der Front und zur Wiederherstellung der Infrastruktur braucht, denn ein regulärer Urnengang würde das Land geschätzt 135 Millionen Euro kosten, einer unter diesen Umständen wohl noch deutlich mehr. Dazu kommen aber innenpolitische Gründe, die Selenskij in Zugzwang bringen: Zwar hätte er bei einer Wahl nicht zu befürchten, abgewählt zu werden – 81 Prozent der Ukrainer stehen laut Umfragen hinter ihm, Gegenkandidat ist auch keiner in Sicht –, nur der Weg bis dorthin wäre wohl kein demokratischer. Das Kriegsrecht schränkt die Möglichkeit eines Urnengangs nämlich auch deshalb ein, weil ein normaler Wahlkampf nicht möglich ist – die Medien sind derzeit so massiv eingeschränkt wie noch nie, viele Informationen über das Kriegsgeschehen unterliegen der Geheimhaltung, zudem sind Versammlungen generell verboten – die Opposition hätte also kaum eine Chance.
Das weiß man auch im Präsidentenpalast, wo man einerseits um keinen Preis den Anschein erwecken will, ein demokratisches Rennen zu verhindern – andererseits will man die westlichen Partner aber auch nicht verprellen. Eine Lösung, wird kolportiert, könnte die Regierungs-App Dija sein, mit der im Inland und im Ausland lebende Ukrainer jetzt schon viele Behördenwege erledigen; Menschen in den besetzen Gebieten benutzen sie teils auch.
Ob das funktionieren kann und ob es reicht, um Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Wahl auszuräumen, ist fraglich. Beobachter halten es für wahrscheinlicher, dass Selenskij es macht wie Churchill und den Krieg noch aussitzt, bevor er sich der Wahl stellt. Dauern die Kämpfe aber noch Jahre, wird sich die Frage der Wahl aber bald wieder stellen.
Die Briten jedenfalls waren ihres Premiers 1945 überdrüssig – und wählten ihn und die Tories nur zwei Monate nach Kriegsende ab.
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