Abhängiges Europa
Das weiß Russland – aber auch die EU. Nur wenige Monate, bevor die Panzer rollten, ging man eine wirtschaftliche Kooperation mit der Ukraine ein, um die riesigen Mengen kritischer Rohstoffe dort auszubeuten. Kurz danach wurde mit der Versteigerung der Abbaulizenzen begonnen.
„Krieg kann nie mit nur einer Begründung erklärt werden. Er ist immer das Ergebnis einer Vielzahl komplexer Faktoren und Motive. Aber Rohstoffe und andere Bodenschätze waren jedenfalls einer der Gründe für die Invasion“, sagt Lazard. Und mehr noch: „Die Ukraine ist sogar Teil einer größeren Strategie Russlands.“
Russland versucht schon seit mehr als einer Dekade, sich genau dort Einfluss zu sichern, wo jene teuren Ressourcen schlummern, die die Welt – und da vor allem der Westen – in den nächsten Jahren mehr und mehr brauchen wird. Rohstoffe, mit denen der Klimawandel bewältigbar scheint, die für Computer, Solarpaneele, E-Autos genauso nötig sind wie für klimafreundliche Energieversorgung oder Hightech-Militärgerät.
So sei auch das Engagement Russlands in Afrika zu sehen, sagt Lazard. Die Wagner-Truppen wurden dort vordergründig mit dem Angebot aktiv, politische Verhältnisse zu stabilisieren und die Länder gegen angebliche „neokoloniale Bestrebungen Europas“ zu rüsten. Der angenehme Nebeneffekt für Russland: Abbaulizenzen für Gold – und für Rohstoffe, die Europa und die USA bitter nötig haben.
Ähnliches gilt wohl auch für die Ukraine. Lazard mutmaßt, dass der Kreml schon 2014 davon getrieben war, sich neben politischer auch wirtschaftliche Macht zu sichern. Damals spielte vor allem Gas eine Rolle; im Schwarzen Meer okkupierten die Russen Gas- und Ölplattformen, seit der Invasion 2022 kontrollieren sie fast alle ungehobenen Ressourcen im Wasser, geschätzt mehr als zwei Milliarden Kubikmeter Gas. Besonders große Reserven vermutet der Konzern Naftogaz, der vor dem Krieg mit einer OMV-Tochter kooperierte, um die Schlangeninsel – das Eiland vor Odessa, das Russland zu Kriegsbeginn schlagzeilenträchtig besetzte.
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Rohstoffreicher Donbass
Heute gehe es dem Kreml eher um seltene Ressourcen, sagt Lazard. In der Ukraine gebe es 20 jener 30 Rohstoffe, die die EU als kritisch einstuft. Die meisten davon – speziell das für Batterien nötige Lithium – lagern dort, wo heute Moskau herrscht: im Osten, in den annektierten Gebieten.
Fünf bis zehn Prozent der globalen Lithiumreserven sind dort zu finden, schätzen die USA. Genauere Zahlen hat wohl Moskau: „Russland hat geologische Informationen über die Rohstoffe in den Ex-Sowjetrepubliken“, sagt die Expertin – Wissen, das heutzutage aus gutem Grund wie ein Staatsgeheimnis gehütet wird.
Während Russlands Griff nach Ressourcen in der Ukraine heftig debattiert wird – man erinnere sich an den Oligarchen Dmytro Firtasch, der die größten Titanreserven des Landes hielt und dem die Kooperation mit Moskau zum Verhängnis wurde –, wird dieser Faktor im Westen eher vernachlässigt. Warum, ist für Lazard kaum nachvollziehbar, zumal Russland seine Ziele sogar selbst formuliert hat: Schon in Strategiedokumenten aus 2009 ist zu lesen, dass Moskau dem Klimawandel vor allem wirtschaftlichen Nutzen ziehen will – indem es massive Abhängigkeiten bei kritischen Gütern schafft. Dass Putin die Erderhitzung zeitgleich leugnet, passt durchaus ins Bild: „Folgt man dieser Logik, glaubt er, dass der Klimawandel die ‚natürliche‘ Vormachtstellung Russlands als Supermacht wiederherstellen wird.“
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Die Strategie, durch Abhängigkeiten Erpressungspotenzial zu schaffen, kann man jetzt schon beim Getreide beobachten. Spüren werde die Welt das aber auch bei der Atomenergie, sagt die französische Forscherin. 50 Prozent aller neuen AKW weltweit würden mit russischem Know-how errichtet, das erzeuge vor allem im globalen Süden Abhängigkeiten über Jahrzehnte. Möglich hält die Expertin das auch beim Wasser. Russland hält schon jetzt 20 Prozent der globalen Wasservorkommen, in Afrika hat Moskau mit hydrologischen Forschungsprojekten begonnen, und die Ukraine gilt ohnehin als eines der fruchtbarsten Gebiete der Welt – auch wegen ihres Wassers.
Dass hierzulande kaum über diese bewusst herbeigeführten Abhängigkeiten diskutiert wird, auch Brüssel das vernachlässige, kritisiert Lazard darum scharf. „Europa muss sich zusammenreißen. Es sieht den Sturm nicht, der da auf uns zukommt.“
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