Die große Krim-Frage: Die Halbinsel, an der sich der Krieg entscheiden dürfte

Rückerobern, rückerobern, rückerobern: Ohne eine militärische Einnahme der Krim, die seit 2014 von den Russen besetzt ist, sei ein Ende des Krieges nicht denkbar, sagte Präsident Selenskij immer wieder. Seit er in einem TV-Interview nun aber sagte, dass man „die Entmilitarisierung Russlands auf der Halbinsel Krim auch politisch vorantreiben“ könne, fragen sich Beobachter: Setzt er auf Verhandlungen? Der KURIER beantwortet die wichtigsten Fragen.
Will Kiew verhandeln?
Jein. Kiew will vor allem Druck erzeugen: Selenskij sagte jetzt mehrfach, die Ukraine würde das Gespräch suchen, wenn die Streitkräfte die Grenze der Halbinsel erreicht haben – sprich, wenn der Landkorridor zur Krim durchschnitten ist. Wird der Zugang zur Insel von Norden versperrt und die Kertsch-Brücke, die das russische Festland mit der Krim verbindet, zerstört, wäre die Halbinsel von der Außenwelt abgeschottet, Versorgung nur über den komplizierten Seeweg möglich. Kiew hätte so ein Faustpfand, um Druck auf Putin auszuüben. Beobachter sehen darin die einzige Möglichkeit für Kiew, ihn an den Verhandlungstisch zu zwingen und dabei in der stärkeren Position zu sein.
Kann die Ukraine das schaffen?
Das ist die große Frage. Zuletzt hat man einige prestigeträchtige Erfolge erzielt, etwa ein russisches Flugabwehrsystem vom Typ S-400 zerstört, zudem landeten Spezialeinheiten per Amphibienfahrzeug und hissten dort die ukrainische Flagge. Im Norden sind es aber noch 80 Kilometer von den jetzt befreiten Gebieten bis Melitopol. Erst wenn die 150.000-Einwohner-Stadt eingenommen ist, hat Kiew alle wichtigen Straßen Richtung Krim in der Hand.
Warum wird die Verhandlungsoption nun ins Spiel gebracht?
Weil Kiews Gegenoffensive stockt und die Kräfte für eine Rückeroberung kaum da sind. Selenskij selbst sagte, eine Eroberung wäre mit Tausenden Todesopfern verbunden. Die Zahl der Soldaten, die dafür benötigt würde, wird auf 100.000 geschätzt.

Aus den USA kamen zuletzt kritische Töne an Kiews Kriegsführung. Hat der Schwenk damit zu tun?
Vermutlich. In den USA schwindet die Unterstützung in puncto Waffenlieferungen, es stehen Präsidentschaftswahlen an. Die Biden-Administration hat Kiew nun laut Wall Street Journal klargemacht, dass man 2024 nicht noch mal 43 Milliarden Dollar an Waffen schicken werde – und dass es eine Strategie brauche, die schnell Erfolge zeigt. Eine Blockade der Krim wäre eine solche, zumal der Westen eine allzu blutige Schlacht dort vermeiden will: Die Krim gilt als einziges Territorium, für das Putin taktische Atomwaffen einsetzen würde. Die Gefahr einer solchen Eskalation wird allerdings als eher gering eingeschätzt – nicht umsonst hat der Westen Kiew nun ganz offiziell zugestanden, Ziele auf der Krim unter Beschuss zu nehmen.
Tourismus trotz Krieg. Als die Ukrainer im Juli die Kertsch-Brücke attackierten, ging es rund in russischen Social-Media-Foren. Hätten die nicht woanders attackieren können? Oder dann, wenn wir die Brücke passiert haben?
Die umkämpfte Krim war immer ein Urlaubsparadies für die Russen, und für viele Urlauber – vor allem jene mit weniger Geld – ist das nach wie vor so. Die teuren Schwarzmeerorte wie Sotschi sind für viele nicht leistbar, darum bleibt ihnen ein Urlaub unter Drohnen: Die Ukraine nimmt die Halbinsel regelmäßig unter Beschuss.
Die Zahlen gehen trotzdem zurück, sehr zum Unmut des Kreml. Für Moskau ist es eine Prestigefrage, das die Halbinsel, die komplett am Tropf Russlands hängt, prosperiert: Mehr als 20 Milliarden Dollar wurden seit 2014 investiert, das Ziel war stets der Anschluss – im echten (mit der 3,7 Milliarden teuren Kertsch-Brücke) wie im übertragenen Sinne. 80.000 Menschen siedelten seit der Annexion dorthin, meist wegen hoher Finanzanreize.
Waren es vor dem Krieg zehn Millionen russische Gäste pro Jahr, die auf die Halbinsel kamen, sind heuer nur mehr 40 Prozent der Betten belegt. Die Reaktion der Besatzungsverwaltung: Sie hat alle Betriebe zu Aktionen und Discounts aufgerufen.

Warum ist die Krim überhaupt so wichtig in diesem Krieg?
Die Krim ist Hauptstützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte mit 50 Kriegsschiffen und sieben U-Boten, laut Schätzungen sind 75.000 russische Soldaten dort. Strategisch ist sie wichtiger als alle anderen besetzten Landesteile: Sie war der militärische Schlüssel zur Invasion im Süden, bliebe sie in russischer Hand, wäre die Gefahr eines neuerlichen Angriffs immer da – darum priorisiert Kiew ihre Demilitarisierung. Zudem ist sie wirtschaftlich für die Ukraine wichtiger als etwa besetzte Osten, wo die Industrie veraltet und teils ohnehin zerstört ist. Auf der Krim hingegen wurde von den Russen massiv investiert. Wäre sie wieder in Kiews Hand, könnte auch der Handel über das Schwarze Meer wieder stattfinden.
Wird Putin die Krim bei einer Blockade kampflos aufgeben?
Ziemlich sicher nicht. Dem Kreml geht es auch um einen ideologischen Sieg, zum einen wegen des angeblich historischen Rechts der Russen darauf, zum anderen, weil Putin die Annexion nach wie vor als Höhepunkt seiner Amtszeit verkauft. Möglich scheint, dass sich die Kriegsparteien mit Beginn einer Blockade an den Verhandlungstisch setzen – das freilich mit völlig ungewissem Ausgang.
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