Ukraine will wehrpflichtige Flüchtlinge zurückholen - ist das möglich?

Eine Reihe von Soldaten in Tarnkleidung und mit Gesichtsmasken stehen im Freien.
Die Regierung in Kiew kämpft gegen die Korruption bei der Mobilmachung, will Wehrdienstverweigerer per internationalem Haftbefehl aus dem Ausland holen.

Stück für Stück kämpfen sich die ukrainischen Streitkräfte an der Südfront vor, sind, aus derzeitigem Stand, von ihrem Ziel dennoch viele Kilometer entfernt – und erleiden hohe Verluste. Auch wenn es stets klar war, dass eine solche Offensive nie unblutig ablaufen kann, intensiviert die ukrainische Regierung die Rekrutierung neuer Soldaten. Bei Kriegsbeginn war eine Generalmobilmachung mit einem Verbot zur Ausreise von wehrpflichtigen Männern im Alter zwischen 18 und 60 Jahren angeordnet worden.

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Razzien und Lücken

Einerseits versucht Kiew, Gesetzeslücken zu schließen: Bis zu 60.000 Männer über 30 Jahre schrieben sich etwa für ein Zweitstudium in der Ukraine ein und konnten so bislang der Mobilisierung entgehen. Diese Möglichkeit will Fedir Wenislawskij, Vertreter des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij im ukrainischen Parlament, nun ändern.

Gleichzeitig wurden in den vergangenen Wochen immer mehr Ergebnisse der verstärkten Arbeit Kiews gegen die Korruption publik – Razzien in 200 Rekrutierungsbüros, das Vorhaben, Korruption mit Hochverrat gleichzusetzen, die Verhaftung des ehemaligen Selenskij-Förderers Ihor Kolomojskij.

14.600 Festnahmen

Zwischen 8.500 und 13.000 Euro Schmiergeld soll es wehrpflichtige Männer kosten, eine Freistellung vom Wehrdienst zu erkaufen. Seit Beginn der russischen Invasion vor mehr als 18 Monaten hat der ukrainische Grenzschutz über 20.000 wehrpflichtige Männer an der Flucht gehindert. „Insgesamt haben die Grenzer seit dem 24. Februar vorigen Jahres etwa 14.600 Personen festgenommen, die illegal die Ukraine verlassen wollten“, sagte Grenzschutzsprecher Andrij Demtschenko. Zusätzlich seien rund 6.200 Männer mit gefälschten Ausreisegenehmigungen erwischt worden.

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Dennoch halten sich laut Eurostat mehr als 650.000 ukrainische Männer im Alter zwischen 18 und 64 als Flüchtlinge in den 27 EU-Staaten, Norwegen, der Schweiz und Liechtenstein auf. Wie viele es zwischen 18 und 60 sind, die keine Befreiung vom Wehrdienst erhalten haben, lässt sich nicht eruieren. Die Gesamtzahl an Menschen, die laut UNHCR aus der Ukraine flohen, beträgt 5,2 Millionen.

Ein Soldat steht vor einem Militärfahrzeug im Freien.

Haftbefehle

Einen Teil dieser Männer will die Ukraine zurückholen: „Das ist eine bedeutende Zahl für die Ukraine, denn diese Personen könnten einberufen werden und unsere Streitkräfte verstärken, wodurch unsere Verteidigung und Sicherheit verbessert würden“, sagte Wenislawskij. Bewerkstelligen will das die Ukraine mit internationalen Haftbefehlen für jeden einzelnen Ukrainer, der – aus ukrainischer Sicht – illegal das Land verlassen hat. Doch ist das möglich?

„Nach geltendem Recht nicht“, sagt Völkerrechtler Ralph Janik zum KURIER. Man könne eine Rechtsgrundlage schaffen, „es gibt aber keine Verpflichtung, junge Männer, die einrücken müssten, in die Ukraine zu bringen“.

Auch Europarechtsexperte Walter Obwexer sieht die Lage ähnlich: „Stellt die Ukraine ein politisches Ansuchen, könnte dem ein europäischer Staat nachkommen – oder eben auch nicht“, sagt er. Grundlage für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge ist die sogenannte Massenzustromrichtlinie der EU. Dort ist ausdrücklich die Rede von Vertriebenen. Rein theoretisch wäre es also möglich, wehrpflichtige Ukrainer davon auszunehmen, dass dies umgesetzt wird, schätzen Experten aber als sehr unrealistisch ein.

Dazu kommt, dass bei Rückführungen eine sogenannte beiderseitige Strafbarkeit gegeben sein muss: Während die Kriegsdienstverweigerung jedoch in Österreich eine Verwaltungsstrafe bedingt, ist es in der Ukraine eine Straftat.

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