Zur gleichen Zeit war Aleksandr bereits auf dem Weg von Charkiw in die Westukraine. „Ich musste meine Frau und meine sechs Monate alte Tochter in Sicherheit bringen“, erzählt der Ukrainer, er kratzt sich am roten Bart. Nachdem er seine Familie geschützt wusste, wollte er wieder zurück, um zu kämpfen. „Meine Frau und ich hatten einen langen, heftigen Streit. Aber was sollte ich machen? Meine Stadt im Stich lassen?“
Mittlerweile ist er Zugskommandant in einem Freiwilligenbataillon. Die Ukraine, sagt Aleksandr, sieht er eindeutig auf dem Weg zum Sieg.
Seit die ukrainische Armee die Russen im September zurückdrängte, ist Charkiw außerhalb der Reichweite der russischen Raketenwerfer. Doch bereits zuvor wurde immer klarer, dass die ehemalige 1,5-Millionen-Einwohner-Stadt für die russischen Truppen nur unter massiven Verlusten einzunehmen gewesen wäre. Immer wieder hatten sie es mit Vorstößen kleiner Panzereinheiten versucht, immer scheiterten sie bereits am Stadtrand.
„Die einzige plausible Erklärung ist, dass der russische Geheimdienst sich massiv geirrt hat“, sagt ein hochdekorierter ukrainischer Militär. „Sie meinten, Charkiw sei russisch geprägt, die Bevölkerung würde sie willkommen heißen. Scheinbar setzte sich auch in diesem Bereich die russische Regel durch: Am Papier ist man groß, doch in der Praxis regiert die Korruption. Die Agenten lagen augenscheinlich falsch.“
Was folgte, war ein monatelanges, zermürbendes Bombardement auf die Stadt. An einem entlegenen Ort haben Entschärfungsteams die Überreste jener russischen Geschosse zusammengetragen, die auf Charkiw abgefeuert wurden. Fein säuberlich geordnet liegen hunderte Grad-, Uragan- und Smerch-Raketen auf einem großen Areal. „Das hier sind Sprengkörper mit Clustermunition“, sagt Wladislaw, der durch den „Raketenfriedhof“ führt.
Clusterbomben sind international geächtet, Russland dementiert ihren Einsatz. „Bis zu 400 Mini-Bomben werden beim Aufprall freigesetzt. Weil einige erst später explodieren, verletzen sie auch noch beim Wegräumen die Rettungskräfte“, sagt er. Vor allem zu Kriegsbeginn sollen die Russen diese menschenverachtende Waffe eingesetzt und unzählige Menschen entstellt und verkrüppelt haben.
Den Willen der Charkiwer brechen konnten sie nicht, ebenso wenig wie Flugzeug-Bombardements. „Ich war lange Tage im Keller, aber hätte niemals meine Stadt verlassen“, sagt Vladimir, klein, rundlich, schwarzes Haar. Während der ersten Monate hätten viele Nachbarn dort Schutz gefunden, sagt der Hotelangestellte. „Die Nachschublage war unsicher, wir waren auf Menschen angewiesen, die unter hohem Risiko Lebensmittel und Treibstoff in die Stadt brachten“, sagt er.
Die Nervosität von damals ist nicht ganz gewichen, so richtig durchschlafen könne er noch immer nicht. „Doch es wird besser“, sagt er. Mittlerweile ist das Hotel, in dem er arbeitet, wieder gut besucht, sanfte Lounge-Musik dudelt im Foyer, wo gerade eine neue NGO-Gruppe eincheckt. Am Sofa neben der Rezeption versucht ein junger US-Amerikaner, eine Ukrainerin zu umgarnen, bis sie wortlos aufsteht und geht.
Auch Serhij ging, fuhr in der dritten Kriegswoche mit seiner Familie zur rumänischen Grenze. „Von dort aus wurden meine Frau und meine Kinder ins Ausland zu Freunden gebracht. Ich bin wieder zurück, habe Taxi gespielt“, sagt der 46-Jährige, der vor dem Krieg als Techniker in der ganzen Welt sein Geld verdiente. „Plötzlich kostete ein Taxi das Zehnfache. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also dachte ich, ich helfe anderen auf diese Art.“ Der Nachschubmangel sei noch bis Mai eklatant gewesen. „Nicht, dass ich hungern musste, aber das Anstehen in den Läden, noch dazu unter ständigem Grollen der Artillerie, war nichts für schwache Nerven.“
Viele seiner Freunde verließen die Stadt ebenfalls, einige sind noch immer weg. „Ich bin so etwas wie ein Immobilienmogul, bei all den Schlüsseln, die ich habe“, lacht er. Regelmäßig überprüft er Wohnungen, die ihm anvertraut wurden, doch es werden weniger: „Die Menschen kommen zurück. Auch meine Familie sehe ich in ein paar Tagen wieder.“
Angst macht ihm nur der kommende Winter. „Ich habe mir Aggregate zugelegt, schaue, dass ich notfalls den Boiler zum Laufen bringen kann. Sollte die Gasversorgung nicht sichergestellt sein, kann ich nicht heizen.“
Und auch eine sichere Stromversorgung ist fraglich. Am Donnerstag gelang es den russischen Streitkräften, ein weiteres Umspannwerk im Raum Kiew zu treffen. Von offizieller Seite gibt es dazu keine Details. Man sei auf einem guten Weg, „Lösungen zu finden“, heißt es. In Charkiw selbst sollen die Schäden, die Drohnen- und Raketenangriffe in den vergangenen Wochen angerichtet hatten, weitgehend repariert worden sein. Nach wie vor dürfte es allerdings das Ziel des Kreml sein, die Infrastruktur der Ukraine nachhaltig zu zerstören.
Das wird Serhij nicht daran hindern, in Charkiw zu bleiben, das er ganz automatisch russisch „Charkow“ nennt. „Wir waren für Ewigkeiten eine russische Stadt, haben uns grundsätzlich als Russen gesehen“, sagt er. Wer hier ukrainisch gesprochen habe, sei früher als Bauer bezeichnet worden. „Doch dann kam 2014 und damit begann für uns der Krieg. Mittlerweile bemühe ich mich, ukrainisch zu sprechen, aber leicht fällt es mir nicht“, sagt Serhij und lacht. „Noch nicht.“
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