Ukraine erst der Anfang: Europa verliert an Bedeutung

Ukraine erst der Anfang: Europa verliert an Bedeutung
Die Welt ordnet sich aktuell neu. Europa wird dabei künftig nur eine untergeordnete Rolle spielen - davon zeigten sich Politlogen bei einer Podiumsdiskussion in Wien überzeugt.

Zusammenfassung

  • Europa verliert an Bedeutung in der globalen Neuordnung, wie bei einer Podiumsdiskussion in Wien erörtert.
  • Die Ukraine-Krise zeigt, dass Europa in geopolitischen Gesprächen zwischen den USA und Russland ausgeklammert wird.
  • Politologen warnen vor einer Ära der 'Drei großen As': Autokratisierung, Autoritarismus und Anti-EU-Stimmung.

"Wir werden unsere Rolle neu definieren müssen." Noch vor seinem Wahlsieg warnte der wohl künftige deutsche Kanzler Friedrich Merz von einem Bedeutungsverlust Europas. 

Die Gespräche zwischen den USA und Russland über die Ukraine - Europa wurde dabei völlig links liegen gelassen - würden einen "kleinen Vorgeschmack" darauf geben, was uns am Kontinent bevorstünde. 

Das deckt sich mit den Einschätzungen von Ivan Krastev, Wolfgang Petritsch und Toni Haastrup, die im Rahmen einer Podiumsdiskussion des Vienna Institute for International Dialogue and Cooperation (VIDC) über die aktuellen Umbrüche in Europa und der Welt dikutiert haben. 

Aktuell breche gerade ein neues weltpolitisches Zeitalter an, in dem Europa eine untergeordnete Rolle spielen dürfte, so die drei Experten für internationale Beziehungen.

Toni Haastrup, die an der Universität Manchester lehrt, erkennt eine Tendenz, Institutionen der "Global Governance" grundlegend zu ändern. Mit dem Begriff sind in der Regel internationale Organisationen wie die UNO gemeint, mithilfe derer Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit zwischen Staaten eingehalten werden sollen. Konkret nannte die Politologin - neben dem Bestreben der USA, Entwicklungshilfe drastisch zu kürzen - die Ankündigung der Niederlande, Zahlungen an (UN-)Programme einzustellen, die der Geschlechtergerechtigkeit beziehungsweise dem Kampf gegen den Klimawandel zugutekommen sollten.

Gefragt, ob das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit am Ende sei, antwortete sie mit einer Gegenfrage: "Wer hat davon profitiert?" - und spielte damit auf dessen Wurzeln im Globalen Norden und den Kolonialismus an. Sie stellte zudem fest, dass afrikanische Staaten "vermehrt ihre Partnerschaften diversifizieren", oft weg von Europa, das in der Vergangenheit großen Einfluss genommen habe.

Ukraine nur der Anfang

Der am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien forschende Politikwissenschafter Ivan Krastev prophezeite Düsteres. "Die Ukraine ist der Beginn des Gesprächs, nicht das Gespräch selbst", sagte er. Russland habe klargemacht, dass die Ukraine nur eines seiner Interessen sei. Es sei auch an der Arktis und dem Mittleren Osten interessiert. Erst vergangene Woche habe Russland seinen Einsatz in der Ukraine intensiviert, weil es bis zu konkreten Verhandlungen über einen Friedensschluss so viel Gebiet wie möglich erobern wolle.

Zu den Gesprächen zwischen Russland und den USA über Frieden in der Ukraine meinte er, Kiew könne in der aktuellen Situation nicht allein entscheiden, was mit dem Land geschehe. Seiner Einschätzung zufolge hat auch Europa schlechte Karten. "Europa kann die USA nicht als Sicherheitsgarant ersetzen", gibt er sich keinen Illusionen hin.

Krastev konnte auch mit einem Aphorismus des russischen Präsidenten Wladimir Putin über dessen US-Pendant Donald Trump aufwarten, der von der Ukraine im Gegenzug für Unterstützung deren Rohstoffe wolle. Putin habe gesagt: "'Trump sagt nicht, was er denkt, er sagt, was er will.'"

Europa begreift nicht, dass Dinge sich ändern

Der ehemalige Spitzendiplomat und jetzige Präsident des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (oiip) Wolfgang Petritsch versuchte einzuordnen, welche Bedeutung die Ukraine für Russland hat. Es gehe beim Ukraine-Krieg für Russland nämlich nicht nur um die Fläche an sich; Russland sei ohnehin schon riesig. "Es war nicht die Sowjetunion, die (1989) zusammengebrochen ist, sondern Russland", sagte Petritsch, der Pressesprecher des früheren Kanzlers Bruno Kreisky (SPÖ) und später Hoher Repräsentant der UNO für Bosnien-Herzegowina war. "In den Augen Russlands war der Zusammenbruch der Sowjetunion eine große Kränkung im Selbstverständnis."

Die transatlantischen Beziehungen sezierte Petritsch regelrecht, nachdem er auf die innenpolitische Lage in den USA eingegangen war. Der Behauptung "Wahlen verändern gar nichts" widersprach Petritsch: "Die vorigen US-Wahlen sind wahrscheinlich jene Wahlen mit den größten Konsequenzen", stellte er fest. Die Wahl und die Vorgangsweise Trumps seien wie eine zweite US-amerikanische Revolution, mit Folgen für den Rest der Welt. Das "aufgeklärte Eigeninteresse" der USA nach 1945 sei vorbei, meinte Petritsch, und Europa habe nicht begriffen, "dass sich die Dinge ändern".

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Wolfgang Petritsch

Freiheit ohne Verantwortung?

"Die offene Gesellschaft hat ihre Grenzen in der Globalisierung gefunden", stellte er fest. Die Rede des US-Vizepräsidenten J.D. Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz sei eine Rede über Meinungsfreiheit gewesen. Doch Meinungsfreiheit bedeute für die Menschen in der US-Regierung etwas anderes als für Menschen in Europa: "Für uns kommt mit Freiheit Verantwortung. In Trumps und (Elon) Musks Vorstellung kommt Freiheit mit keinerlei Verantwortung."

In der Folge kritisierte er den österreichischen Kanzler Alexander Schallenberg (ÖVP), der - laut Petritsch - "interessant" gefunden hatte, was Vance in München von sich gegeben hatte. Der US-Vizepräsident hatte dort die Meinung geäußert, dass in Europa die Meinungsfreiheit bedroht sei, und dies damit in Verbindung gebracht, dass rechtsextreme Parteien in Europa weitgehend von Regierungsbeteiligungen ausgeschlossen würden. "Es ist in der Tat interessant (was Vance gesagt hatte, Anm.)", befand Petritsch. Aber bei der Rede von Vance könne man nicht bloß affirmativ bleiben. "Diese Reaktion (Schallenbergs) zeigt für mich, dass diese Leute die fundamentalen Unterschiede nicht verstehen, die zwischen dem momentanen (US-)amerikanischen Verständnis autokratischer und oligarchischer Strukturen und dem 'altmodischen' liberal-demokratischen europäischen Modell existieren." Schallenberg hatte Vance in einem Punkt recht gegeben, wie er in einem Interview mit der Zeitschrift Foreign Policy sagte: Auch er halten den Begriff der "Firewalls" bzw. der "Brandmauer" in einer Demokratie für äußerst heikel.

Die drei As

Allerdings vertritt Petritsch auch den Standpunkt, Europa dürfe sich nicht nur darauf konzentrieren, was Trump tue. "Der Feind im Inneren der EU ist nicht Ungarn oder die Slowakei, sondern die Rechtsextremen in Ländern wie Deutschland und Frankreich." Und: "Einfach nur die Demokratie zu verteidigen wird nicht reichen."

Er machte eine Zeit der "Drei großen As" aus: "Autokratisierung, Autoritarismus und Anti-Europäische-Union-Stimmung". "Die EU wurde für den Frieden geschaffen. Aber wie verteidigt sie den Frieden?", fragte Petritsch, der mutmaßte, nach dem Ost-West-Konflikt im Kalten Krieg könne nun eine "Non-Polarität" entstehen oder auch eine "neue" Polarität.

Eine den Abend als Allegorie nutzendes, reflektierendes Schlusswort lieferte Petritsch: "Diese Diskussion hat gezeigt, worüber global nicht gesprochen wird: zum Beispiel den Klimawandel." Dagegen mutete eine Aussage Krastevs fast schon optimistisch an: "Wenn man e i n Ende sieht, denkt man, es sei d a s Ende."

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