Türkei: Parlament stimmt für mehr Macht für Erdogan

Recep Tayyip Erdogan
Die Verfassungsreform in der Türkei hat die bislang wichtigste Hürde genommen. Trotz wütenden Protesten aus der Opposition stimmt das Parlament den Plänen von Staatschef Erdogan zu.

Die von Staatschef Recep Tayyip Erdogan angestrebte Verfassungsreform für ein Präsidialsystem in der Türkei ist vom Parlament verabschiedet worden. In Kraft treten können die Änderungen allerdings erst, wenn das Volk in einem Referendum zustimmt. Für das von Erdogans AKP vorgelegte Reformpaket aus 18 Artikeln stimmten in der Nacht auf Samstag 339 Abgeordneten, 142 waren dagegen.

Die notwendige Dreifünftelmehrheit von mindestens 330 Stimmen wurde auch mit Hilfe von Abgeordneten aus der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP erzielt. Damit nahm die Reform ihre bisher wichtigste Hürde.

Während der fast zweiwöchigen Parlamentsdebatte über die Verfassungsänderungen kam es zu hitzigen Auseinandersetzungen und zu Schlägereien im Parlament. Über die 18 Artikel wurde jeweils einzeln in zwei Lesungen abgestimmt. Sie alle erhielten - wie am Schluss auch das Gesamtpaket - die notwendige Dreifünftelmehrheit. Zu der Volksabstimmung, bei der nur noch eine einfache Mehrheit notwendig ist, soll es voraussichtlich Ende März oder Anfang April kommen.

Die Umsetzung der Verfassungsreform soll schrittweise erfolgen und bis Ende 2019 vollständig abgeschlossen sein. Das Präsidialsystem würde Erdogan deutlich mehr Macht verleihen und das Parlament schwächen. Der Präsident würde zugleich als Staats- und Regierungschef amtieren und könnte weitgehend per Dekret regieren. Sein Einfluss auf die Justiz würde weiter zunehmen.

Die Amtszeiten des Präsidenten wären zwar weiterhin auf zwei begrenzt, die Zählung würde unter dem neuen Präsidialsystem aber mit der für November 2019 geplanten Wahl neu beginnen. Theoretisch könnte Erdogan durch eine Hintertür in den Verfassungsänderungen bis zum Jahr 2034 im Amt bleiben, wenn er die jeweiligen Wahlen gewinnt.

Erdogan führt an, dass das Präsidialsystem der Türkei Stabilität bringen würde. Der Chef der kleinsten Oppositionspartei MHP, Devlet Bahceli, und weitere MHP-Abgeordnete unterstützten die Reform im Parlament. Die größte Oppositionspartei CHP und die pro-kurdische Oppositionspartei HDP sind dagegen strikt gegen das Präsidialsystem, weil sie eine Ein-Mann-Herrschaft befürchten. Derzeit ist Umfragen zufolge auch ungewiss, ob sie bei dem geplanten Referendum im April vom Volk gebilligt wird.

Die HDP hatte angekündigt, sich aus Protest gegen die Inhaftierung ihrer Kollegen an den Abstimmungen zur Verfassungsreform nicht zu beteiligen. Elf HDP-Parlamentarier sitzen seit November wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft, unter ihnen die Parteichefs Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Sie waren damit von der Debatte ausgeschlossen. Besonders Demirtas hatte immer wieder deutlich gemacht, dass er das Präsidialsystem verhindern wolle.

Die Szenen aus dem türkischen Parlament veranlassen sogar Ministerpräsident Binali Yildirim dazu, die Abgeordneten zur Räson zu rufen. Kurz zuvor hat sich die Parlamentarierin Aylin Nazliaka aus Protest gegen das von Staatschef Recep Tayyip Erdogan vorangetriebene Präsidialsystem ans Rednerpult gekettet, und zwar mit Handschellen.

Daraufhin ist eine wüste Schlägerei zwischen Parlamentarierinnen der Opposition und der AKP-Regierungsfraktion entbrannt, eine Abgeordnete verliert ihre Armprothese, Haare fliegen. Unter den prügelnden Parlamentarierinnen ist Gökcen Enc von der AKP, die wenige Tage zuvor im Parlament ein "Hunde verboten"-Schild in die Kameras gehalten hat. Der Grund dafür: Einer ihrer AKP-Kollegen wirft einem Oppositions-Abgeordneten vor, ihm bei einer Massenschlägerei während der Debatte ins Bein gebissen zu haben.

Wer sich bei den handfesten Auseinandersetzungen ums Präsidialsystem am Ende durchsetzen würde, zeichnete sich bereits ab: Erdogan, der heimliche Anführer der AKP, der der Partei bald auch formal wieder vorstehen dürfte - wenn alles weiter nach seinem Drehbuch läuft.

Bisher verbietet die Verfassung dem Präsidenten, einer Partei anzugehören. Das Ende dieses Verbots ist nur ein Teil der Verfassungsreform, der das Parlament am frühen Samstagmorgen mit der notwendigen Dreifünftelmehrheit zugestimmt hat. Diese Mehrheit ist ein erneuter Beweis für Erdogans riesigen Einfluss: Ihm ist es gelungen, Teile der ultranationalistischen Oppositionspartei MHP auf seine Seite zu ziehen - obwohl diese Abgeordneten damit nicht nur für die Entmachtung des Parlaments stimmten, sondern auch die Zukunft ihrer Partei in Frage gestellt haben dürften.

Die Reform - die nun noch durch ein Referendum muss - wäre der tiefste Einschnitt im politischen System der Türkei seit Jahrzehnten. Sie würde den Präsidenten mit einer Machtfülle ausstatten, wie sie demokratisch gewählte Staats- und Regierungschefs selten haben. Aus Sicht Erdogans ist das nötig, damit er das unter Terror und innerer Zerrissenheit leidende Land wieder in ruhige Fahrwasser steuern kann.

Der Chef der türkischen Anwaltskammer, Metin Feyzioglu, ist dagegen überzeugt, dass der Systemwechsel zu "Instabilität und Chaos" führen würde. Er vergleicht das Präsidialsystem mit einer Herrschaftsform, mit der die Türkei in ihrer osmanischen Vergangenheit jahrhundertelange Erfahrung gemacht hat: "Das nennt sich Sultanat."

Theoretisch könnte Erdogan länger an der Macht bleiben als viele der osmanischen Sultane. Dabei hatte die AKP in ihrer Anfangszeit unter Erdogan eingeführt, dass Amtsperioden auf maximal drei begrenzt sind. An die Buchstaben dieses Parteistatuts hat Erdogan sich stets gehalten: Von 2003 bis 2014 war er drei Mal Ministerpräsident, dann ließ er sich zum Staatschef wählen. Macht und Einfluss nahm er einfach in das neue Amt mit, auch wenn die Verfassung das so nicht vorsah, weswegen sie nun schließlich auch geändert werden soll.

In die Reform hat die AKP eine Klausel eingebaut, die Erdogan unter Umständen ermöglichen könnte, die Geschicke der Türkei bis 2034 zu bestimmen. Dann wäre er 80 Jahre alt - und mehr als 30 Jahre an der Macht. Voraussetzung dafür wären nicht nur Erfolge bei künftigen Präsidentenwahlen, sondern auch, dass das Volk die Verfassungsreform im Frühjahr in einem Referendum billigt. Erdogan ist zuversichtlich, dass eine Mehrheit ihm auf seinem Kurs folgt. Ausgemachte Sache dürfte das aber nicht sein - erst recht nicht, wenn sich die wirtschaftlichen Probleme zur echten Krise auswachsen sollten.

Erdogan wirbt seit langem unablässig für sein Präsidialsystem, der formelle Beginn des 60-tägigen Wahlkampfs dürfte nun unmittelbar bevorstehen. Die Abstimmung am Tag des Referendums mag dann zwar weitgehend frei und fair verlaufen. Beim Wahlkampf aber sind Zweifel angebracht. Zahlreiche kritische Medien wurden geschlossen. Fernsehsender, die noch nicht völlig auf Regierungslinie sind, übertragen schon jetzt jede einzelne der vielen Ansprachen Erdogans live und in voller Länge. In staatsnahen Medien gibt es keinerlei sachliche Auseinandersetzung mit der Opposition.

Vor allem finden der Wahlkampf und womöglich auch das Referendum im Ausnahmezustand statt, den Erdogan nach dem Putschversuch vom Juli 2016 verhängt hat - und der kürzlich bis zum 19. April verlängert wurde. Zehntausende Menschen sind festgenommen worden, fast 100.000 Staatsbedienstete wurden entlassen. Regierungsgegner sind mit öffentlicher Kritik sehr vorsichtig geworden. Das mag erklären, warum kaum jemand gegen Erdogans Präsidialsystem auf die Straße geht - obwohl zwar vielleicht nicht die Mehrheit, aber doch ein großer Teil der Gesellschaft den Systemwechsel aus ganzem Herzen ablehnt.

Türkei: Parlament stimmt für mehr Macht für Erdogan
- Der Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Der Präsident darf künftig einer Partei angehören. Er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten, sondern von einer vom Präsidenten zu bestimmenden Zahl an Vizepräsidenten vertreten. Der Präsident ist für die Ernennung und Absetzung seiner Stellvertreter und der Minister zuständig.

- Der Präsident kann Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft treten. Eine nachträgliche Zustimmung durch das Parlament (wie im derzeit geltenden Ausnahmezustand) ist nicht vorgesehen. Die Dekrete werden unwirksam, falls das Parlament zum Thema des jeweiligen Erlasses ein Gesetz verabschiedet. Per Dekret kann der Präsident auch Ministerien errichten, abschaffen oder umorganisieren.

- Parlament und Präsident werden künftig am selben Tag für die Dauer von fünf Jahren vom Volk gewählt, und zwar erstmals am 3. November 2019. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der jeweilige Präsident über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Die Amtsperioden des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Zahl der Abgeordneten steigt von 550 auf 600. Parlamentarische Anfragen gibt es nur noch schriftlich an die Vizepräsidenten und Minister.

- Neuwahlen können sowohl das Parlament als auch der Präsident auslösen, im Parlament ist dafür eine Dreifünftel-Mehrheit notwendig. In beiden Fällen werden sowohl das Parlament als auch der Präsident zum gleichen Zeitpunkt neu gewählt - unabhängig davon, welche der beiden Seiten die Neuwahl veranlasst hat.

- Die Amtszeiten des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Regierungspartei AKP hat aber eine Hintertür eingebaut: Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten Neuwahlen beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren.

- Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen Präsidialsystem neu beginnen. Erdogan wäre also nach einem Wahlsieg 2019 in seiner ersten Amtsperiode. Mit der Hintertür (und bei entsprechenden Wahlerfolgen) könnte er theoretisch bis 2034 an der Macht bleiben.

- Der Präsident bekommt auch mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann der Präsident künftig vier der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament drei weitere. Feste Mitglieder bleiben außerdem der Justizminister und sein Staatssekretär. Bisher bestimmen Richter und Staatsanwälte selbst die Mehrheit der derzeit noch 22 Mitglieder des Rates. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten zuständig.

- Das Parlament in Ankara hat der Verfassungsreform für ein Präsidialsystem in der Türkei mit der nötigen Dreifünftelmehrheit zugestimmt. Damit haben die Abgeordneten den Weg für eine Volksabstimmung freigemacht. Der weitere Verlauf:

- Präsident Recep Tayyip Erdogan hat nun zwei Wochen Zeit, um den Vorschlag für die Verfassungsänderungen zu unterzeichnen und damit ein Referendum einzuleiten. Theoretisch könnte er den Vorschlag auch ans Parlament zurückzuschicken. Da Erdogan die Reform selbst initiiert hat, ist aber von seiner Zustimmung auszugehen.

- Nach der Unterzeichnung wird der Vorschlag im Amtsanzeiger veröffentlicht. Am ersten Sonntag nach 60 Tagen findet dann ein Referendum darüber statt - also vermutlich Ende März/Anfang April.

- Der Vorschlag für die Verfassungsänderungen ist angenommen, sobald eine einfache Mehrheit im Referendum dafür stimmt.

- Die meisten Verfassungsänderungen würden erst umgesetzt, wenn Präsident und Parlament das nächste Mal gewählt werden - etwa die Übernahme des Amtes des Regierungschefs durch den Präsidenten. In Artikel 17 der Änderungen ist als Datum für die erste zeitgleiche Wahl von Präsident und Parlament der 3. November 2019 vorgesehen.

- Andere Änderungen sollen bereits zuvor verwirklicht werden. So soll beispielsweise der Präsident bald nach Inkrafttreten der Reform Mitglied einer Partei werden dürfen. Auch die Umstrukturierung des Rates der Richter und Staatsanwälte - in dem der Präsident deutlich an Einfluss gewinnen würde - soll dann begonnen werden.

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