Erdogans Präsidialsystem kaum noch aufzuhalten

Für den ersten Artikel stimmten in der Nacht zu Mittwoch 347 Abgeordnete, für den zweiten 343. Der türkische Präsident kommt seinem Wunsch, mehr Macht auf sich zu bündeln, einen Stück näher.

Im türkischen Parlament haben die ersten beiden Artikel der Verfassungsreform für ein Präsidialsystem in einer ersten Wahlrunde die nötigen Mehrheiten bekommen. Für den ersten Artikel stimmten in der Nacht zu Mittwoch 347 Abgeordnete, für den zweiten 343, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete. Damit wurde die notwendige Mehrheit von 330 der 550 Parlamentarier jeweils erreichen.

Allerdings müssen die Artikel in einer zweiten Wahlrunde erneut dieselbe Mehrheit erzielen. Auch das Gesamtpaket mit insgesamt 18 Artikeln muss am Ende der rund zweiwöchigen Debatte eine Dreifünftelmehrheit erzielen, damit ein Referendum stattfinden kann.

Pro-kurdische Partei wird protestieren

Die ersten beiden Artikel betreffen noch nicht den Kern der Reform für ein Präsidialsystem, das Staatschef Recep Tayyip Erdogan mit einer großen Machtfülle ausstatten soll. Mit dem ersten Artikel soll in der Verfassung ergänzt werden, dass die Justiz nicht nur unabhängig, sondern auch unparteiisch ist. Mit dem zweiten Artikel soll die Zahl der Parlamentsabgeordneten von 550 auf 600 erhöht werden. Die bei beiden Artikeln erzielten Mehrheiten zeigen, dass Abgeordnete aus der Opposition für die Änderungen stimmten.

Erdogans islamisch-konservative Regierungspartei AKP verfügt über 316 Sitze im Parlament. Der Chef der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli, hat seine Unterstützung für die Reform zugesagt, die allerdings auch in seiner Partei umstritten ist. Am Montag stimmten 338 Abgeordnete für den Beginn der Beratungen über die Verfassungsreform. Somit gab es mehrere Abweichler in den Reihen der MHP, die 40 Abgeordnete hat. Die pro-kurdische HDP hat angekündigt, die Beratungen aus Protest gegen die Inhaftierung mehrerer ihrer Abgeordneten zu boykottieren.

Mit dem Beginn der Parlamentsdebatte über die umstrittene Verfassungsreform ist der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seinem Ziel der Einführung eines Präsidialsystems einen großen Schritt näher gekommen. Zwar gibt es in den eigenen Reihen Vorbehalte gegen den Pläne und auch ein Ja beim geplanten Referendum ist nicht sicher. Ein Scheitern der Reform scheint dennoch unwahrscheinlich.

Erdogan verfolgt die Einführung des Präsidialsystems bereits seit seiner Wahl zum Präsidenten 2014, doch stellte er das Vorhaben zurück, nachdem seine islamisch-konservative AKP bei der Parlamentswahl 2015 einen schweren Rückschlag erlitten hatte. Erst nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli brachte er das Vorhaben wieder in die Diskussion und gewann im Oktober auch die Unterstützung des MHP-Vorsitzenden Devlet Bahceli.

Vorbehalte

Im Dezember legten Ministerpräsident Binali Yildirim und Bahceli nach langen Verhandlungen dann den Entwurf für die Reform vor. Die Pläne stießen bei etlichen MHP-Abgeordneten auf Ablehnung, von denen sieben inzwischen ankündigten, mit Nein zu stimmen. Auch in der AKP-Fraktion gibt es Medienberichten zufolge Vorbehalte gegen die Schwächung des Parlaments und die Konzentration der Macht in den Händen des Präsidenten.

Wie türkische Medien berichteten, besteht in Teilen der AKP die Befürchtung, dass die Ausrichtung des gesamten Systems auf Erdogan der AKP eines Tages auf den Kopf fällt. Denn sollte Erdogan nicht mehr da sein und die Opposition die Präsidentschaft gewinnen, würde sich das System gegen die AKP wenden. Außerdem haben kurdische AKP-Abgeordnete Vorbehalte gegen das Bündnis mit den Nationalisten der MHP.

"Es ist unwahrscheinlich, dass eine bedeutende Anzahl von AKP-Abgeordneten gegen den Vorschlag stimmt."

Der Leiter des Büros der Heinrich-Böll-Stiftung in Istanbul, Kristian Brakel, hat aber Zweifel, dass trotz dieser Vorbehalte AKP-Abgeordnete tatsächlich "ihre Stellung riskieren, indem sie gegen die Pläne stimmen". Um ein Referendum über die Reform anzusetzen, brauchen AKP und MHP 330 Stimmen. Da sie zusammen auf 355 Sitze kommen, hätten sie selbst bei zwei Dutzend Abweichlern noch genug Stimmen.

Bevölkerung gespalten

"Es ist unwahrscheinlich, dass eine bedeutende Anzahl von AKP-Abgeordneten gegen den Vorschlag stimmt", sagt auch der türkische Politikexperte Galip Dalay vom Al-Sharq Forum in Istanbul. "Obwohl eine ganze Reihe Abgeordnete unzufrieden ist mit der Führung, wird kein AKP-Politiker sich offen auflehnen und seine Karriere gefährden, indem er sich abspaltet, solange die Partei an der Macht ist."

Wenn im Parlament die nötige Mehrheit zusammenkommt, wird die Reform voraussichtlich Anfang April den Türken zur Abstimmung vorgelegt. Mehrere Umfragen zeigten zuletzt die Bevölkerung in ihrer Haltung zum Präsidialsystem gespalten. Demnach könnte die Reform knapp die 50 Prozent verfehlen. Brakel warnt aber, dass es "in der aktuellen Lage nicht möglich ist, seriös die Stimmung im Land zu erfassen".

Dalay: Verfassungsreform unwahrscheinlich

Dalay erwartet, dass Erdogan versuchen wird, "das Referendum zu politisieren und es zu einer Abstimmung über Sicherheit und Stabilität zu machen, anstatt in die Details der Reform zu gehen". Angesichts der sehr realen Bedrohung der Türkei durch Anschläge der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und des "Islamischen Staats" (IS) könnte eine Mehrheit letztlich Erdogans Argumentation folgen, dass es in Zeiten der Krise eine starke Führung braucht.

"Auch wenn viele ihrer Wähler unzufrieden sind mit der Politik der AKP, werden sie bleiben, weil sie keine Alternative sehen", sagt Dalay. In der stark polarisierten Stimmung im Land käme für viele konservative Türken ein Wechsel ins Lager der säkularen Opposition nicht infrage. Ein Scheitern der Verfassungsreform hält Dalay daher derzeit für unwahrscheinlich, doch verweist er zugleich darauf, dass in den kommenden drei Monaten noch viel passieren könne - zumal in der Türkei.

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