Im Spagat zwischen Harvard und Peking: Das ist Tiktok-Chef Shou Zi Chew
Über den 41-Jährigen hinter der drittgrößten Social-Media-Plattform der Welt ist wenig bekannt. Als Singapurer sei er frei vom Einfluss Chinas, sagt er. Aber stimmt das?
Neben den Schwergewichten Mark Zuckerberg (Facebook, Instagram) und Elon Musk (X) ist auf der Bühne der Social-Media-Chefs nur wenig Platz für Shou Zi Chew. Doch der 41-jährige Geschäftsführer von Tiktok, immerhin das drittgrößte Soziale Netzwerk der Welt, scheint es zu genießen, dass medial kaum etwas über ihn bekannt ist.
Erst vor eineinhalb Jahren zerrte die US-Regierung Chew ins Rampenlicht, als er zu einer Befragung durch Kongressabgeordnete gezwungen wurde. Er gab sich aalglatt, beantwortete jede Frage in perfektem Englisch.
Nur einmal, als er vom republikanischen Senator Tom Cotton (Arkansas) gefragt wurde, ob er Mitglied der kommunistischen Partei Chinas sei, geriet er ins Schmunzeln.
„Natürlich nicht, Sir“, sagte Chew und spielte seine Trumpfkarte aus: „Ich bin Singapurer.“
Der chinesische Staatssender CNA teilte die Szene online, verkaufte sie als Beweis dafür, dass Verantwortungsträger in den USA Asiaten unter Generalverdacht stellen würden:
Seine Herkunft dient Chew als Feigenblatt, er nutzt sie stets, um zu beteuern, er sei frei vom Druck der chinesischen Regierung – genau wie sein Unternehmen Tiktok. Tatsächlich kommt seine Familie, wie bei drei Viertel aller Singapurer, aus China; seine Muttersprache ist Mandarin.
Welcher Weg führte den 41-Jährigen an die Spitze eines der größten Medienkonzerne der Welt? Was ist privat über ihn bekannt? Und wie viel Macht hat er eigentlich?
Praktikant bei Facebook
Chew war schon immer ein Überflieger, in der singapurischen Armee etwa mit zwanzig Jahren bereits Offizier. Er studierte Wirtschaft, erst am University College in London, dann in Harvard, wo er 2010 neben dem Masterstudium als Praktikant für Facebook arbeitete, als die Firma noch ein Start-up war.
Die Zeit in den USA bezeichnet Chew heute als prägend. Dort baute er sein erstes professionelles Netzwerk auf und lernte seine Frau kennen, die Investmentbankerin Vivian Kao, eine US-Amerikanerin mit taiwanischen Wurzeln.
Folglich war auch Chew sieben Jahre lang als Investment-Banker tätig. Bei der russischen Investorengruppe DST leitete Chew ein Team, das in aufstrebende chinesische Firmen investierte. Sie alle zählen heute zu den größten des Landes, darunter der Technologieriese Xiaomi, die Onlinehändler Alibaba – und der heutige Tiktok-Mutterkonzern ByteDance.
"Er war besser als jeder andere, den ich je getroffen habe"
Offenbar schindete Chew dabei mächtig Eindruck. "Er war objektiv besser geeignet als jeder andere, den ich in der chinesischen Geschäftswelt je getroffen habe", erinnerte der brasilianische Google-Manager Hugo Barra vor einem Jahr im Gespräch mit den New York Times.
Barra war damals noch für Xiaomi tätig, wo er seinen Kollegen empfahl, Chew abzuwerben. Mit seinen hervorragenden Kenntnissen der chinesischen und US-amerikanischen Kultur sei Chew perfekt gewesen, so Barra, "um dieser zweischneidige Manager eines chinesischen Unternehmens zu werden, das zu einem globalen Kraftpaket werden will.“
Chew kam, wurde direkt Finanzvorstand (CFO) bei Xiaomi und leitete 2018 den Börsengang des Unternehmens. Vor drei Jahren wechselte der Enddreißiger schließlich zur Tiktok-Mutter ByteDance, ebenfalls als CFO - allerdings nur für zwei Monate.
Dann nämlich schmiss der US-Amerikaner Kevin Mayer überraschend als TikTok-Geschäftsführer hin. Nur vier Monate, nachdem er einen langjährigen Managementposten bei Disney zugunsten der Chinesen aufgegeben hatte. Die Gründe dafür sind bis heute nebulös. Klar ist: Chew zeigte auf und bekam den Job.
Einmal wollte Chew ein Restaurant kaufen, um länger sitzen bleiben zu können
In dieser Funktion gibt der Singapurer seither alles, um möglichst unabhängig zu wirken. Von seinen ersten Monaten ist überliefert, dass Chew nach Kalifornien flog und die dortige Büroleitung in ein edles Fischrestaurant ausführte. Dort habe er den Kollegen dargelegt, dass er gekommen sei, um den Konzern so auszurichten, dass er gegen keine US-Gesetze verstößt.
Schönes Detail: Als der Restaurantbetreiber die Gruppe zu später Stunde darauf hinwies, dass er bald schließen wolle, soll Chew angeboten haben, das Restaurant zu kaufen, um länger sitzen bleiben zu können.
Ein eigenes TikTok-Profil besitzt Chew erst seit 2022. Es heißt, angelehnt an seinen Vornamen, "@shou.time". Darin zeigt er polierte Ausschnitte seines öffentlichen Lebens - etwa den Besuch der MET-Gala in New York, die TikTok mitfinanziert - richtete sich aber auch direkt an die 150 Millionen Nutzer in den USA und forderte sie auf, sich an die Regierung zu wenden, "um zu verhindern, dass sie euch Tiktok wegnehmen."
Alle strategischen Entscheidungen werden in Peking getroffen
Das ist Chews großer Auftrag: Das Tiktok-Verbot in den USA zu verhindern. So wird er nicht müde zu betonen, dass die Firma unter ihm ihre gesamte Serverinfrastruktur umgestellt hat. Dass Daten internationaler Nutzer nicht mehr nach China gesendet werden.
Nur einmal, so gestand er bei der Anhörung in Washington, habe TikTok unter seiner Ägide Informationen von US-Journalisten an ByteDance weitergegeben – „das hätte niemals passieren dürfen.“
In Wahrheit sei seine Entscheidungskraft jedoch eingeschränkt, wie zwölf anonyme Tiktok- und ByteDance-Führungskräfte der New York Times im Vorjahr berichteten. Alle wichtigen Entscheidungen über die Art und Weise, wie die App funktioniert, würden in China getroffen – von ByteDance-Gründer Zhang Yiming.
Die strategische Abteilung von TikTok berichte nicht einmal an Chew, sondern direkt an Zhangs Team in Peking. Sollte dem so sein, wäre der Singapurer für die Chinesen vor allem eines: Ein Feigenblatt.
Dazu passt auch jene Anekdote, die aus einem Vorstandsmeeting bei Tiktok überliefert ist: Auf die Frage, wo er die App in 100 Jahren sehe, soll Chew scherzhaft geantwortet haben: „Ich will vor allem mal nächstes Jahr Geld verdienen.“
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