Im Robotaxi durch Wuhan: Die KI wird mit jeder Fahrt schlauer
Auf der untersten Ebene eines gewaltigen Verkehrsknotens, wo die vielen, übereinanderliegenden Autobahnen die Sonne verdecken, kommt ein Taxi rund 40 Meter vom Gehsteig entfernt auf der rechten Spur zum Stehen – und bleibt erst einmal dort.
Das ist ungünstig. Für die Fahrgäste, die erst auf die Autobahn laufen müssen, aber auch für die anderen Fahrer, die ausweichen müssen. Trotzdem hupt niemand, es wäre zwecklos, denn in dem Taxi sitzt kein Mensch.
Die Szene spielt sich im Herzen Chinas ab, wo der KURIER gemeinsam mit anderen österreichischen Medien eine Testfahrt in einem fahrerlosen Taxi unternimmt. Die Metropole Wuhan, die vor fünf Jahren noch als Brutstätte der Corona-Pandemie zu fragwürdigem Ruhm gekommen war, wurde 2021 zur ersten Stadt weltweit, in der die sogenannten Roboter-Taxis die Testphase verlassen haben und völlig ohne menschlichen Überwacher unterwegs sind. Heute prägen bereits 400 von ihnen das Stadtbild.
Betrieben werden die Taxis von Apollo, einem Tochterunternehmen des chinesischen Suchmaschinen-Riesen Baidu, der auch die nötige KI-Software entwickelt. Dazu nutzt der Konzern Autos chinesischer Anbieter – in diesem Fall einen Wagen der Marke Arcfox – und stattet sie mit der hauseigenen Software aus. Nutzer in China können über die Apollo-App Fahrten buchen und das Auto dann per Code entsperren.
Während also draußen die Wolkenkratzer am Ufer des Jangtsekiang vorbeiziehen, dreht sich das Lenkrad von alleine. Ansonsten ist das Fahrgefühl aber unspektakulär: Es erinnert an einen Fahrlehrer, der einem neuen Schüler vorführt, wie es aussieht, wenn man sich penibel an alle Regeln hält. Die KI hält immer mindestens eine Autolänge Abstand zum vorderen Wagen. Sie bremst früh, aber gemächlich, nimmt jede Kurve ohne Schwung. Und sie bewegt sich selbst bei Überholmanövern im Rahmen des Tempolimits.
Der KI-Forscher Liu Hao vom AI Research Center in Wuhan erklärt, wie das funktioniert: „KI-Modelle können nicht wirklich eigenständig Entscheidungen treffen. Sie sagen nur das mögliche Gefahrenpotenzial jeder möglichen Handlung voraus und erkennen das schneller als Menschen – dann wählen sie immer die Handlung mit der wenigsten Gefahr.“
Nur, wenn das Apollo-Taxi viele Gefahrenherde auf einmal erkennt, etwa auf Straßen, auf denen auch Fußgänger und Radfahrer unterwegs sind, lenkt es ruckartig, um den Abstand zu vergrößern. Das ist besonders dann zu beobachten, wenn wieder einmal ein anderes Auto ausschert und das Robo-Taxi verbotenerweise von rechts überholt. Es gilt als offenes Geheimnis, dass viele chinesische Autofahrer die Robo-Taxis „testen“, indem sie sie absichtlich in gefährliche Situationen bringen, um möglicherweise einen Auffahrunfall zu provozieren.
Eine riskante Taktik – schließlich sind die Autos von Apollo mit mindestens zwölf Kameras ausgestattet und zeichnen jede Fahrt auf. Trägt ein anderer Verkehrsteilnehmer die Schuld, spricht Apollo von einem „passiven Unfall“ und bringt ihn zur Anzeige. Nur, wenn der Zusammenstoß durch eine Entscheidung der KI ausgelöst wurde, ist von einem „aktiven Unfall“ die Rede. Laut Apollo hat es einen solchen bisher noch nie gegeben.
Trotz waghalsiger Manöver anderer Fahrer läuft auch bei der Testfahrt in Wuhan alles reibungslos. Für 28 Minuten und 12 Kilometer Strecke werden zudem gerade einmal 2,50 Euro fällig. Da kann die menschliche Konkurrenz nicht mithalten.
„Wir glauben, dass unsere Arbeit die Menschheit so weit nach vorne bringen wird wie die Mondlandung“, heißt es in der Apollo-Zentrale. „Unsere Technologie wird die Art, wie wir uns fortbewegen, grundlegend verändern.“ Wie nahe sind wir also schon dran, am völlig automatisierten Stadtverkehr?
„Technisch wäre es schon jetzt möglich, dass alle Autos selbstfahrend sind“, meint Liu Hao. „Aber die Technologie wird schrittweise implementiert, damit sich die Bevölkerung daran gewöhnen kann.“ So wird das Apollo-Programm nach und nach auf andere Großstädte ausgeweitet.
Auch am Rande der Hauptstadt Peking, im modernen Industrieviertel Yizhuang, fahren selbstfahrende Taxis über die breiten Straßen. Doch sie sind hier nicht allein: In einem gewaltigen Bürokomplex aus Glas, der so manches Raumschiff in den Schatten stellen würde, wird ebenfalls seit Jahren mit KI experimentiert. Es ist der Firmensitz von Jingdong, kurz JD, dem größten Online-Einzelhändler Chinas.
Dessen Webseite ist eine Art chinesisches Amazon, allerdings bietet JD auch viele hauseigene Produkte – und das Versprechen, fast überall in China noch am selben Tag liefern zu können, wenn die Bestellung vor 11.00 Uhr eingeht.
High Tech wohin man schaut
Ein Mitarbeiter erklärt bei einer Führung durch die High-Tech-Ausstellungshalle im Erdgeschoss, wie das möglich ist. Zwar steht bei JD eine Armee von mehr als 300.000 Lieferanten unter Vertrag, doch vor allem sind fast alle Lagerhäuser vollautomatisiert.
Das heißt: Eine hauseigene KI übernimmt die Logistik, selbstfahrende Transportfahrzeuge und Roboterarme schlichten die Waren um. Auch diese Fahrzeuge können eigenständig ihren Weg zum Zielort finden und auf den regen Verkehr in den Lagerhäusern reagieren. Menschen sind dort nur noch beschäftigt, um die Maschinen zu überwachen.
Der Konzern hat damit seine Kosten gesenkt und die Effizienz gesteigert. Sogar in Europa stehen schon vollautomatisierte JD-Lagerhäuser: In Deutschland, Frankreich, Polen und den Niederlanden. Selbst ausliefern wollen die Chinesen von dort aus aber (noch) nicht, stattdessen vermieten sie die Standorte an Konkurrenten wie Amazon oder Ebay.
In Zukunft soll sich das ändern. Unter dem Namen „Ochama“ will JD bald auch im Ausland auf den Markt drängen. Dabei hofft man auf weitere Erfolge der firmeninternen Forschungsabteilung: In Teilen Chinas nutzt JD schon jetzt rund 700 fahrerlose Transportfahrzeuge für Lieferungen, ebenso wie große, propellerbetriebene Drohnen, die bis zu eine Tonne an Waren ausfliegen können. Schon jetzt habe man damit rund eine Million Kilometer an Lieferstrecke zurückgelegt.
Mit jeder Fahrt schlauer
Das ist das besondere an Künstlicher Intelligenz: Sie wird mit jeder neuen Fahrt schlauer. „Die Intelligenz einer KI steigt mit der Größe des Datensatzes, auf dem sie basiert“, erklärt Liu Hao. „Momentan können wir stetig weitere Daten zuführen, genau wie unsere westlichen Konkurrenten. Deshalb haben wir in der KI-Entwicklung auch noch kein Plateau erreicht.“
Europa kann von all dem nur träumen. Während auf chinesischen und selbst vereinzelten US-amerikanischen Straßen die Revolution des Straßenverkehrs voranschreitet, werden die EU-Staaten abgehängt. Und zumindest die Apollo-KI ist uns bereits zehn Millionen gefahrene Kilometer voraus.
Hinweis: Die Reise erfolgte auf Einladung der All-China Journalists Association, die einen Teil der Kosten übernahm.
Kommentare