Folter und Schikane: Eine politische Gefangene erzählt von ihrer Haft in China
Den Tag, der ihr Leben für immer verändert hat, kann Phuntsog Nyidron minutiös beschreiben. Sie durchlebte ihn in ihrem Kopf immer wieder. Mit erst 20 Jahren verlor sie ihre Freiheit und musste die nächsten 16 Jahre im Gefängnis verbringen.
Der KURIER erreicht Nyidron in der Schweiz, wo die buddhistische Nonne heute seit mehr als zwanzig Jahren lebt. Es sei „ein freies Land, ein schönes Land“, das sie wegen der Berge an ihre Heimat Tibet erinnere. Trotzdem fühle sie sich eingesperrt: „Ich kann nicht nach Hause, ich bin gezwungen, hier zu leben.“
Die kleine Frau Mitte 50 war einst eine der „singenden Nonnen“ – einer Gruppe Frauen, die Kassetten voller Protestlieder nach draußen schmuggelten und damit Ende der 1990er-Jahre weltweite Anteilnahme auslösten. Auf Druck der USA kam Nyidron frei, „während hunderte, tausende Tibeter noch immer festgehalten werden“, sagt sie. Um ihnen zu helfen, erzählt sie ihre Geschichte.
Als Nonne auf der Straße
Sie beginnt in den späten 1980er-Jahren. Die Sowjetunion bröckelte, und auch in Chinas Städten brauten sich Studentenproteste zusammen, die letztlich am Pekinger Tian’anmen-Platz brutal niedergeschlagen werden sollten. Zeitgleich brodelte es in Tibet. Ab 1987 fanden dort die größten Aufstände seit der Annexion durch China 1959 statt.
Der 10. März ist für die meisten Tibeter von großer Bedeutung: An diesem Tag kam es 1959 in der Hauptstadt Lhasa zum ersten großen Aufstand gegen die chinesischen Besatzer. Obwohl der Dalai Lama zu gewaltfreien Protesten aufrief, kam es zu wochenlangen Straßenkämpfen, die die Volksbefreiungsarmee mit Gewalt niederschlug.
85.000 Tibeter sollen bei den Auseinandersetzungen getötet worden sein, auf chinesischer Seite fielen 2.000 Soldaten. Beide Zahlen sind umstritten. Im Zuge der Kämpfe floh der damals 24-jährige Dalai Lama als Soldat verkleidet nach Indien, wo er bis heute lebt.
Der Tibet Uprising Day wird bis heute von Exil-Tibetern als Tag des Widerstandes gegen die chinesische Besatzung mit Protesten gefeiert. Immer wieder kam es auch in Tibet zu Massenprotesten, besonders in den Jahren 1987-1989 und 2008.
An einem Frühlingsmorgen 1989 marschierte die 20-jährige Nyidron gegen den Widerstand ihres Vaters an der Seite anderer junger Nonnen in der tibetischen Hauptstadt Lhasa. Sie riefen: „Freiheit für Tibet“ und „Lang lebe der Dalai Lama“. Plötzlich waren sie von Soldaten der Volksbefreiungsarmee umzingelt. Die Männer schlugen sie zu Boden, traten auf sie ein und brachten sie in ein Militärlager.
Dort saß Nyidron einem chinesischen und einem tibetischen Polizisten gegenüber. Immer wieder fragten die Männer, wer die Drahtzieher hinter den Protesten seien. „Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass wir freiwillig auf die Straße gingen“, glaubt Nyidron. Um die anderen Nonnen zu schützen, sagte sie, sie selbst habe die Gruppe angestiftet.
Folter und Stromschläge
Jetzt begannen sie, ihr richtig wehzutun. Einer der Polizisten holte eine Eisenstange und schlug sie, so heftig wie nie zuvor. Als sie sich nicht mehr regte, gurteten die Männer sie an einen sogenannten „Tigerstuhl“ und stachen ihr langsam in jeden Finger.
Die junge Frau schrie und weinte, doch es kamen keine Tränen: „Das sahen sie als Beweis, dass ich ihnen nur etwas vorspielen würde.“ Dann brachten die Polizisten an ihren blutenden Fingern Kabel an und betätigten einen Hebel. Die Schmerzen waren so schlimm, dass sie ohnmächtig wurde. Mit kaltem Wasser weckten ihre Foltermeister sie wieder auf.
Phuntsog Nyidrons Stimme bebt, wenn sie das erzählt. „Irgendwann warfen sie mich in einen Raum, in dem nur eine Matte auf dem Boden lag. Vor Schmerzen bin ich einfach zusammengebrochen“.
Heimliche Gesänge
Wegen der Organisation „konterrevolutionärer Aktivitäten“ wurde sie von einem Militärgericht zu neun Jahren Haft im berüchtigten Drapchi-Gefängnis verurteilt. „Als politische Häftlinge waren wir Gefangene niedrigster Stufe. Die anderen wurden belohnt, wenn sie uns ausspionierten“, erinnert sie sich.
Gemeinsam mit anderen inhaftierten Nonnen trat Nyidron mehrfach in einen Hungerstreik, um bessere Haftkonditionen zu erwirken. Sie waren teilweise erfolgreich. Ab 1993 durften alle Häftlinge einmal pro Monat in Kleingruppen in sogenannte Lernräume. Dort bekam eine der Nonnen über einen Mitgefangenen einen Kassettenrekorder in die Hände.
Der Rekorder wurde von Nonne zu Nonne weitergereicht, nachts nutzten sie ihn, um Protestgesänge aufzunehmen. „Wir wollten in erster Linie unseren Familien zeigen, dass wir noch leben und dass wir standhaft sind“, sagt Nyidron. 14 Frauen waren auf der Kassette zu hören. Sie ahnten nicht, dass die Lieder um die Welt gehen würden.
Die Wärter suchten wie besessen nach den schuldigen Nonnen, bis ein anderer Häftling sie schließlich unter Folter verriet. Die jungen Frauen wurden erneut verurteilt, Nyidrons Haft um acht Jahre verlängert.
Freilassung dank Bush
In dieser Zeit erlebte sie Chinas wirtschaftlichen Aufstieg im Gefängnis hautnah mit. „Plötzlich waren überall Kameras“, sagt sie. „Sobald man sich in der Zelle an einem Ort aufhielt, den die Kamera nicht einfing, kam ein Wächter vorbei.“ Unter diesen Umständen war heimlicher Widerstand nicht mehr möglich: „Und heute müssen die Gefängnisse noch viel moderner sein.“
Die Modernisierung Chinas ging mit einer schrittweisen Öffnung einher, auch auf diplomatischer Ebene. Im Februar 2002 empfing Machthaber Jiang Zemin US-Präsident George W. Bush in Peking. Die beiden verstanden sich prächtig, Bush lud Jiang sogar auf seine Farm nach Texas ein. Als Zeichen des guten Willens verlangten die USA jedoch die Freilassung politischer Häftlinge, darunter die verbliebenen „singenden Nonnen“.
Ein paar Wochen später, nach dem Morgenappell, wurde die inzwischen 36-jährige Nyidron im Drapchi-Gefängnis in ein Büro geführt, in dem zwei Polizisten warteten. Ihre Sachen waren bereits da. Doch das Regime ließ sie nicht einfach ziehen. Die folgenden zwei Jahre verbrachte Nyidron unter Hausarrest. Rund um die Uhr standen drei Beamte vor ihrer Tür.
Bis eines Tages eine US-Delegation vorbeikam. „Sie boten mir an, mich für eine Behandlung ins Ausland zu fliegen“, erinnert sich Nyidron, „ich traute ihnen nicht. Doch sie hatten einen tibetischen Übersetzer dabei, der mir zu verstehen gab, dass das Angebot ernst gemeint war.“ Wenige Tage später saß sie zum ersten Mal in einem Flugzeug.
„Das ist meine Aufgabe“
Nyidron ist ihren Rettern bis heute dankbar, „aber da ist auch immer dieses Schuldgefühl“. Heute gibt es in Tibet viel mehr politische Häftlinge als früher, der chinesische Überwachungsstaat ist effizienter undurchsichtiger geworden. Angehörige wissen oft nicht, wo ihre Familienmitglieder sind und ob sie noch leben. „Außerdem sind heute viele Staaten abhängig von China und können weniger Druck ausüben.“
Würde sie angesichts dessen noch einmal genauso handeln? „Ja“, sagt sie bestimmt. Es sei schließlich ihr Schicksal. „Manche sind für eine große Ausbildung oder für Ruhm bestimmt. Meine Aufgabe ist es, zu erzählen, was ich erlebt habe.“
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