Tibets Exil-Präsident im Gespräch: "Wir sterben einen langsamen Tod"
Als Penpa Tsering in einem Wiener Hotel zum Interview erscheint, entschuldigt er sich für seine Müdigkeit. Es seien anstrengende Tage gewesen. Fünf Länder durchreiste der Präsident der Exilregierung Tibets in zwanzig Tagen; eine Europareise, die ihn von der Schweiz über Frankreich, Italien, Deutschland, und Österreich geführt hatte. Überall traf er sich mit Parlamentariern, um auf die Unterdrückung seines Volkes aufmerksam zu machen – in Österreich mit Abgeordneten der Grünen, der ÖVP und der Neos, in Frankreich sogar mit Präsident Emmanuel Macron.
Eigentlich galt der Dalai Lama, der oberste Mönch des tibetischen Buddhismus, als weltliches und geistliches Oberhaupt Tibets. Doch als Tenzin Gyatso, der aktuelle, 14. Dalai Lama, 2011 seine politischen Ämter niederlegte, wurde zusätzlich das Amt des Präsidenten, genannt Sikyong, geschaffen. Vom indischen Dharamsala aus versuchen beide, ihr Volk in der Welt zu vertreten.
Tibet ist ein geografischer und kultureller Raum, der heute zu einem Großteil als Autonomes Gebiet Tibet (AGT) von der Volksrepublik China beherrscht wird. In den 1950er-Jahren drang Mao Zedongs Volksbefreiungsarmee in das tibetische Hochland ein und annektierte das Gebiet. Der politische und religiöse Herrscher des buddhistischen Tibet, der 14. Dalai Lama, floh 1959 nach Indien, wo er bis heute im Exil lebt.
China sieht Tibet seit Jahrhunderten als Teil seines Herrschaftsgebiets, die tibetische Exilregierung meint, das Gebiet habe nur zwischenzeitlich unter der Herrschaft der Mongolen gestanden, niemals jener der Han-Chinesen, und sei zum Zeitpunkt der Annexion ein eigenständiger Staat gewesen.
Zuletzt ist es ruhiger geworden um das Leid der Tibeter. Chinas Umgang mit den muslimischen Uiguren in der Provinz Xinjiang, die zu Hunderttausenden in Arbeits- und Umerziehungslagern sitzen, mit der Sonderverwaltungszone Hongkong, die über ein neues Sicherheitsgesetz gleichgeschaltet wurde sowie mit der Insel Taiwan, der man mit der Eroberung droht, nimmt seit Jahren mehr Platz in der Öffentlichkeit ein.
Die Überwachung in Tibet sei "wie aus George Orwells 1984"
„Es ist ja kein Wettkampf um die internationale Aufmerksamkeit“, sagt Tsering. Durch die öffentlichen Auftritte des Dalai Lama sei Tibet eben viele Jahre stärker „sichtbar“ gewesen. Heute stünden eben die Uiguren im Fokus, „doch solange der Täter derselbe ist, haben wir alle dasselbe Ziel.“ Eine Erklärung für die verschobene Aufmerksamkeit sei, dass es schlicht mehr Uiguren gibt: Rund sieben Millionen Tibetern weltweit stehen 20 Millionen Uiguren gegenüber, auch die Diaspora ist mit mehreren Millionen deutlich größer als die ca. 140.000 Exil-Tibeter.
„Sie hören aber auch weniger aus Tibet, weil die Situation dort jener in Hongkong oder Xinjiang um Jahrzehnte voraus ist“, sagt Tsering. China habe in Tibet ein System „wie aus George Orwells Roman 1984“ etabliert: „Der Staat kontrolliert alles, ist allgegenwärtig.“ Der öffentliche Raum, das Internet, selbst Hotels würden ständig überwacht. Das habe zu einem völligen Stillstand der Widerstandsbewegung geführt.
Aufgebracht erklärt Tsering: „Der chinesische Staat weitet seine Kontrolle inzwischen auf unsere Klöster aus, setzt Mönche unter Druck und schickt unsere Kinder in Zwangsinternate, in denen sie nur noch Chinesisch sprechen dürfen. Das ist Kolonialismus, sie greifen die Wurzel unserer tibetischen Identität an!“
Doch diese Form der Unterdrückung sei für die Tibeter schwer zu beweisen, weil es nicht um Verhaftungen oder Folter gehe. Tsering sagt deshalb: „Wir sterben einen langsamen Tod.“
"Ihr Europäer seid noch immer dabei, eure Lektionen zu lernen"
Immerhin habe in Europa inzwischen „wirklich jeder“ verstanden: Russland ist die unmittelbare Gefahr, China die langfristige Herausforderung. „Das gibt uns Möglichkeiten. Wenn wir Regierungen oder Parlamentarier kontaktieren, sind sie eher bereit, uns zuzuhören.“ Trotzdem sagt der Sikyong: „Ihr Europäer seid noch immer dabei, eure Lektionen zu lernen.“
Obwohl in Deutschlands nationaler China-Strategie etwa als „systemischer Rivale“ bezeichnet wird, investieren deutsche Großkonzerne weiter in der Volksrepublik. „Da frage ich mich“, so Tsering, „wenn der Drache euch beißt und ihr trotzdem nicht aufhört, ihn zu füttern, wer ist dann schuld?“
Nach Jahrhunderten in unmittelbarer Nachbarschaft sei für die meisten Tibeter klar: „China respektiert nur Stärke.“ Europäische Staaten müssten deshalb für ihre Werte einstehen, statt vor Chinas Reichtum auf die Knie zu fallen. „Denn wenn man sich zu tief verbeugt, ist man irgendwann auf allen vieren“, erklärt der Sikyong ernst: „Und dann wird China dich wie einen Esel behandeln.“
Autonomie am Beispiel Südtirols?
Irgendwann, das ist das erklärte Ziel der Exilregierung, wolle man eine demokratische, autonome Provinz innerhalb der Volksrepublik China werden. Wie das gehen soll? „Wir haben uns viele Autonomie-Modelle auf der Welt angesehen und Ideen gesammelt“, sagt Tsering. „Südtirol ist ein gutes Beispiel, wo das Volk, aber auch die italienische Regierung zufrieden ist.“
Spielraum für Verhandlungen könnte es aber erst geben, wenn sich das Kräfteverhältnis zwischen Tibet und der Zentralregierung verschieben würde. Tsering hält das nicht für ausgeschlossen: „Kaum jemand hätte erwartet, dass die Sowjetunion so schnell zerfallen würde.“
Die chinesische Wirtschaft erholt sich nur schwerfällig von der Pandemie, erste Zeichen einer Stagnation seien erkennbar. Laut Tsering räche sich nun, "dass Wachstum über Jahrzehnte die einzige Lösung der kommunistischen Partei war", dabei glaube man im Buddhismus seit 1.400 Jahren daran, dass Materialismus alleine nicht glücklich macht.
Chinas Machthaber Xi Jinping sei das beste Beispiel dafür, meint der Sikyong: "Xi ist der mächtigste Chinese seit Mao Zedong; der politische, militärische und ideologische Führer im Staat. Aber glauben Sie, dass er gut schläft?" Tsering gibt die Antwort selbst: "Ich glaube, er sieht überall Feinde, hat große Angst davor, seine Macht zu verlieren. Das zeigt sich auch an seiner Politik."
Xi hat einen Staat geschaffen, in dem das Volk ständig überwacht wird, in dem jene belohnt werden, die ihre Mitbürger anschwärzen.“ Dasselbe gelte in der Politik, wo im Vorjahr der Außen- und Verteidigungsminister spurlos verschwanden.
Xi habe einen Staat geschaffen, "in dem das Volk technologisch überwacht wird, in dem jene belohnt werden, die ihre Mitbürger anschwärzen", sagt Tsering. Dasselbe gelte für die Politikerkaste, wo erst im Vorjahr der Außen- und Verteidigungsminister aus der Öffentlichkeit verschwanden.
"Xi spricht immer davon, China müsse die Lehren aus der Geschichte ziehen, vom Aufstieg und Fall der großen Imperien. Er ist besessen davon", meint Tsering. "Xi will Kontrolle um jeden Preis, will dafür sorgen, dass die Kommunistische Partei weiter besteht. Doch genau die Stimmung, die er geschaffen hat, könnte zum Niedergang des Kommunismus führen.
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