Fernab ihrer Familien müssen die meisten tibetischen Kinder in staatlichen Internaten aufwachsen, wo sie zu „vorbildlichen Chinesen“ erzogen werden. Der KURIER hat mit einem ehemaligen Schüler gesprochen.
Seit Jahren ist es in fast allen tibetischen Haushalten dasselbe Bild: Wenn sich die Familie zum Abendessen setzt, bleiben die Stühle der Kinder leer. Sie sind fort, weggebracht in staatliche Internatsschulen, teilweise ab dem vierten Lebensjahr. Nur in den Sommerferien kehren die Kinder zurück – oft als veränderte Menschen.
Tibet ist ein kultureller Raum, der seit dem Einmarsch der Kommunisten 1950 als Autonomes Gebiet Tibet (AGT) von der Volksrepublik China beherrscht wird.
Unterdrückung Mit einem staatlichen Kontroll- und Überwachungsapparat hält Peking die einst starke Unabhängigkeitsbewegung in Tibet klein. Der politische und religiöse Herrscher des buddhistischen Tibet, der 14. Dalai Lama, floh 1959 nach Indien, wo er bis heute im Exil lebt.
800.000tibetische Kinder sollen aktuell Staatsinternate besuchen, das sind mehr als drei Viertel. Dort dürfen sie kein Tibetisch sprechen.
Chinesische Staatsmedien führen in Fernsehbeiträgen stolz durch die Internate. Dort sind glückliche tibetische Kinder und Jugendliche in aufgeräumten Klassenräumen zu sehen, an der Wand hängt ein Leitspruch in roten Schriftzeichen: „Ich möchte ein vorbildlicher Chinese sein.“
Schon lange setzt die chinesische Regierung in Landesteilen, in denen vor allem ethnische Minderheiten leben, auf Internatsschulen. Dort ist es ihnen verboten, ihre Muttersprachen zu sprechen, der Unterricht findet ausschließlich auf Mandarin statt.
Nur so werde, so die offizielle Erklärung, Kindern aus einkommensschwachen und bildungsfernen Regionen später eine Chance in der Arbeitswelt geboten.
Jigme besuchte einst ein solches Internat. Eigentlich heißt er anders, aber weil er China erst im Vorjahr verlassen und noch immer Familie in Tibet hat, möchte er anonym bleiben.
Als der KURIER ihn per Videocall erreicht, sitzt Jigme vor einem grünen Vorhang in Dharamsala, dem Zufluchtsort für geflüchtete Tibeter in Indien. Hinter ihm ist ein Bild des Dalai Lama zu sehen. In Tibet wäre das undenkbar.
Schule als Werkzeug eines "kulturellen Ethnozids"
Mit sieben Jahren wurde Jigme in ein Internat in einer großen chinesischen Stadt geschickt, 3.000 Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt.
„Die Lehrer waren sehr, sehr streng. Wir durften das Schulgelände nie verlassen, auch nicht, um einkaufen zu gehen“, erzählt er. „Wir durften fast nie mit unseren Eltern telefonieren und nur in den Sommerferien nach Hause. Immer, wenn es wärmer wurde, haben wir begonnen, die Tage zu zählen.“
Volksschul-Internate beginnen in China ab dem sechsten Lebensjahr, tibetische Kinder müssen aber oft schon mit vier Jahren in eine Internats-Vorschule.
Doch nach nur ein paar Jahren geschah etwas mit Jigme, von dem auch viele andere ehemalige Internatsschüler berichten: „Ich hatte so viel Tibetisch vergessen, dass ich im Sommer kaum noch mit meinen eigenen Eltern sprechen konnte.“
Menschenrechtsorganisationen werfen China vor, die Kinder bewusst von der eigenen Sprache und Kultur zu entwurzeln. Damit dienen die Schulen als Werkzeug für das, was als „kultureller Ethnozid“ bezeichnet wird: Die systematische Auslöschung der Minderheitenkultur durch den chinesischen Staat über mehrere Generationen.
76 Prozent aller tibetischen Kinder besuchen heute staatliche Internate
Jigmes 12-jährige Internatszeit begann im Jahr 2000, seither hat sich viel verändert. Er hatte im ersten Volksschuljahr noch eine tibetische Schule besucht und war wegen seiner guten Noten als „Schüler mit Potenzial“ vom Staat für ein Internat ausgewählt worden.
Heute besuchen 76 Prozent aller tibetischen Kinder im schulpflichtigen Alter Internate. Die meisten anderen Schulen wurden in den letzten Jahren geschlossen. Wollen sich Eltern nicht strafbar machen, haben sie also keine andere Wahl, als ihre Kinder ins Internat zu schicken.
Inhaltlich deckt sich vieles, was Jigme von seiner Schulzeit erzählt, mit heutigen Berichten von Menschenrechtsorganisationen: Der Unterricht trieft vor chinesischer Staatspropaganda.
Bei einer geführten Medientour entstanden diese Bilder aus dem Inneren eines tibetischen Internats.
Wer Tibetisch lernen will, darf kein Englisch lernen
Nach der sechsjährigen Volksschulzeit wechselte Jigme in eine jeweils dreijährige Mittel- und Oberstufe, wo er sogar militärisch ausgebildet wurde. Hier durfte er erstmals Tibetisch lernen – allerdings nur als Fremdsprachen-Wahlfach, er musste dafür also auf Englisch verzichten.
Der Tibetisch-Unterricht habe ausschließlich darin bestanden, komplexe chinesische Texte zu übersetzen. „Es ging um chinesische Philosophie und Geschichte, niemals um Tibet“, sagt er.
Ihm sei etwa beigebracht worden, Tibet sei erst durch die „chinesische Befreiung“ 1950 zu Wohlstand und Kultur gekommen. „Bevor die Chinesen kamen, war Tibet wild, arm und kulturlos. Das haben wir fast täglich gehört.“
"Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass wir diese Behandlung wirklich verdient hatten"
Dieser Punkt geht Jigme besonders nahe, er stoppt immer wieder, wenn er davon erzählt. „Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass wir diese Behandlung wirklich verdient hatten, weil wir Tibeter sind. Dass es schon Sinn macht, dass wir unsere Familien nur so selten sehen durften. Das ist es, was diese Propaganda in deinem Kopf anrichtet.“
Erst auf der Universität hätten andere tibetische Studierende ihm von der Geschichte der Unterdrückung Tibets und der Bedeutung des tibetischen Buddhismus erzählt. Da sei ihm klar geworden, dass er „wie ein Roboter“ gelebt habe: „Ich war gefühllos, völlig abgeschnitten von meiner Herkunft, meiner Kultur, meiner Familie.“
Und er sei nicht der Einzige gewesen: „Ich habe erlebt, wie ein Mitschüler vom Tod seiner Mutter erfuhr. Er fühlte sich so schuldig, weil er nicht weinen konnte. Aber er kannte sie einfach nicht mehr gut genug.“
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