Streit um Verfassung endet auch mit Votum nicht
Es war der Griff zum letzten Strohhalm, als Nobelpreisträger Mohammed ElBaradei gestern noch einmal versuchte, das Verfassungsreferendum zu verhindern: Man solle die Volksabstimmung einfach absagen, forderte er. In ein bis zwei Jahren könne man eine neue Verfassung unter Mitarbeit von Nicht-Islamisten schaffen. ElBaradeis Ruf verhallte einmal mehr, am Samstag startet unter Protesten die erste Runde des Referendums.
Frei interpretierbar
Der Opposition war der neue Entwurf von Anfang an ein Dorn im Auge. Sie war aus der Verfassungsgebenden Versammlung ausgezogen und verpasste so ihre Chance, mitzureden. Nun beklagt sie, die neue Konstitution schränke die Frauenrechte und die Justiz ein und räume der Religion zu großen Einfluss auf die Gesetzgebung ein.
Dass „die Prinzipien der Scharia“ die Hauptquelle der Gesetzgebung sein sollen, stand auch schon in der vorigen Verfassung. Die vage Formulierung aber, befürchten die Säkularen, gebe jenen, die heute in Ägypten am Ruder sind, viel Interpretationsspielraum. Und das sind die Muslimbrüder und andere Islamisten.
Zudem waren es bisher die Obersten Richter, die die „Prinzipien der Scharia“ deuten sollten. Nach der neuen Verfassung kommen nun die Islam-Gelehrten der Kairoer Al-Azhar-Universität zum Zug. Sie sollen in „Angelegenheiten die Scharia betreffend“ konsultiert werden.
Laut dem neuen Grundgesetz sind Religion, Patriotismus und Moral die Grundlagen der ägyptischen Familie – und vom Staat ausdrücklich geschützt. Was das im Alltag bedeutet, ist unklar. Ängste, dass bald staatliche Institutionen von Politikern benutzt werden könnten, den „Charakter der Familie“ zu diktieren, kommen auf.
Zudem werden Frauen nicht ausdrücklich gleichgestellt: Anders als in der Verfassung Mubaraks wird die Frau nicht erwähnt, außer wenn es um Mutterschaft, Alleinverdienerinnen, Geschiedene und Witwen geht. Die Zwangsheirat wird zumindest nicht ausgeschlossen.
Diese Artikel kamen schon teilweise abgeschwächt in den Entwurf. Die Muslimbrüder, die hinter Präsident Mursi stehen, rangen den radikaleren Salafisten Zugeständnisse ab, damit die Verfassung angenommen wird. Der Einfluss der Salafisten aber bleibt bestehen.
Unabhängig davon, wie das Ergebnis des Referendums in einer Woche aussehen wird, Fälschungs- und Manipulationsvorwürfe sind vorprogrammiert. Und damit auch die Weiterführung des Verfassungsstreits.
Die Ultras des Kairoer Fußballklubs Al Ahly sind – bewaffnet mit Steinen, Stöcken und Molotowcocktails – der „militärische“ Arm der Proteste in Ägypten. Sie bestehen aus mehreren Gruppen, die gemeinsam die zweitgrößte zivilgesellschaftliche Organisation des Landes (hinter den Muslimbrüdern) ausmachen. Ihre Zahl wird auf über 20.000 geschätzt. „Vor allem schlecht gebildete, arbeitslose, frustrierte Jugendliche sehen oft keine andere Chance“, erklärt James M. Dorsey. Der international tätige Journalist und Betreiber des Blogs „The Turbulent World of Middle East Soccer“ sprach mit dem KURIER über...
... die Relevanz von Al Ahly
Al Ahly ist der wohl erfolgreichste Klub in ganz Afrika. Er wurde vor mehr als einem Jahrhundert als anti-britischer, anti-monarchistischer, nationalistischer Fußballklub gegründet. Die Fangemeinde von Al Ahly wird im In- und Ausland auf rund 50 Millionen geschätzt. (Ägypten hat ca. 80 Mio. Einwohner).
... die politische Zugehörigkeit der Fans
Die Ahly-Ultras sind keine politisch homogene Gruppe. Die Loyalität zum Klub und der Widerstand gegen die Sicherheitskräfte eint sie. Sie sind gegen Korruption, Mubarak-Freunde, und pro Palästina. Aber abgesehen davon haben sie verschiedenste politische Sichtweisen. Man kann nicht sagen, sie sind für oder gegen Islamisten. Viele der Anführer sind Anarchisten – sie sind allergisch gegen autokratische Strukturen.
... den Wandel der Fans zur politisch militanten Gruppierung
Fußball war das Einzige, was eine ähnliche Leidenschaft wachrief wie die Religion. Es war wie mit der Moschee: Vom Stadion können sie nicht alle ins Gefängnis stecken. Mubarak wollte die Stadien kontrollieren, weil er die öffentliche Meinung dort nicht im Griff hatte. Die Fans waren bereit, ihm die Stirn zu bieten. Um 2005 kamen sie in Kontakt mit Ultra-Gruppen in Serbien und Italien. Sie stimmten sich mit deren Grundsätzen ab. Ab 2007 kamen Pyrotechnik, Banner, Gesänge auf, was zu Konfrontationen mit dem Sicherheitspersonal führte. In den vier Jahren vor Mubaraks Sturz gab es bei jedem Match eine Konfrontation. Die Ultras waren die einzige organisierte Gruppe, die es mit dem Regime aufnehmen konnte. Sie sprachen sich mit den Demonstranten ab und spielten so eine Schlüsselrolle in der Revolte. Sie sorgten dafür, dass die Angst abgebaut wurde und dienten als Pufferzone. Denn sie standen in der ersten Reihe – sie hatten die Erfahrung. Und die Furchtlosigkeit. Und die Entschlossenheit. Nach außen gaben sie sich unpolitisch, doch unter der Hand sagten die Anführer ihren Leuten: „Das ist die Chance, auf die wir gewartet haben!“
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