Stimmen aus Charkiw: 181 Tage im Bombenhagel
Als Vladimir das letzte Mal eine Nacht durchgeschlafen hat, lag noch Schnee über Charkiw, hielten er und die anderen Angestellten im Hotel, in dem sie arbeiteten, einen russischen Angriff für unwahrscheinlich. Dann brach in der zweitgrößten ukrainischen Stadt die Hölle los, bombardierten die russischen Mehrfachraketenwerfer täglich die Wohnviertel, rückten russische Soldaten bis tief in die Stadt vor – und wurden zurückgeschlagen. Doch die Bombardements gingen und gehen weiter. Jeden der seitdem vergangenen 181 Tage.
Heftiger Beschuss
„Wir werden jeden Tag beschossen, vor allem nachts. Ich denke, das wird gemacht, um die Menschen müde zu machen und sie in ständiger Anspannung zu halten. Es schadet der psychischen Gesundheit sehr, wenn man nicht gut schlafen kann“, sagt er dem KURIER. „Jetzt, um den Nationalfeiertag herum, hat der Beschuss zugenommen, und die Alarmsirenen heulen andauernd.“
Das Hotel in der Nähe der Charkiwer Innenstadt sei zwar noch geöffnet, doch vor allem nutzen er und die Nachbarn, die in Charkiw geblieben sind, den Hotelkeller als Schutzraum. Vielen anderen sei die Flucht in sicherere Städte oder ins Ausland gelungen, er selbst will nicht gehen: „Ich werde mein Land, aber vor allem meine Stadt nicht aufgeben“, sagt Vladimir. Hauptsächlich hält er sich im Hotel auf: „Wir müssen im Keller täglich für Stunden Schutz suchen – gerade bin ich dort“, sagt er während des KURIER-Gesprächs.
Lebensmittel knapp
Hört der Beschuss auf, ist der 29-Jährige auf Lebensmittelsuche. „Die humanitäre Hilfe ist lange nicht so groß, wie offiziell verkündet wird. Es gibt lange Schlangen von alten Menschen und Obdachlosen, die den ganzen Tag vor Supermärkten für kleine Portionen an Lebensmitteln anstehen, die kaum ausreichen“, sagt er. Nebenstraßen seien mit Schutt, umgestürzten Bäumen und manchmal auch Leichen bedeckt. Er kenne Menschen, „die Lebensmittel unter großer Gefahr in die Stadt bringen und dort verteilen“. Mehr dazu will er aus Sicherheitsgründen nicht sagen.
Etwa zehn Kilometer nordöstlich von Vladimirs Hotel liegt das ehemalige Arbeiterviertel Saltivka. In den ersten Kriegswochen verlief dort die Front. Dort fielen die Bomben am heftigsten, wenn die Russen wieder einmal mit ihren Bodentruppen scheiterten. Dort schlagen auch heute noch die meisten Raketen ein, haben die hohen Plattenbauten in eine Trümmerlandschaft verwandelt.
Wie viele Menschen dort seit Kriegsbeginn gestorben sind, ist schwer zu sagen. Die Rettungskräfte sind überfordert, immer wieder finden sie Leichen unter Trümmerhaufen. Schätzungen der Behörden gehen von etwas mehr als 1.000 Toten aus.
Der KURIER traf dort den 19 Jahre alten Vlad Ende Februar in einer der U-Bahnstationen, wo sich der Großteil der Menschen vor den Bomben in Sicherheit brachte. Für Vlad war das nicht sicher genug: „Ich bin seit fünf Monaten in Kiew“, sagt er. Zu perspektivenlos und zu gefährlich sei es in Saltivka gewesen.
Zufluchtsort
Die U-Bahnstationen sind laut Vladimir mittlerweile leer: „Sie wurden in sichere Wohnheime verlegt – es ist ja doch viel Raum freigeworden“, sagt er. Dennoch treffen mittlerweile auch neue Menschen in Charkiw ein: Vertriebene aus den Oblasten Donezk und Lugansk, Menschen aus Dörfern in der Umgebung. Ihre Häuser wurden gänzlich dem Erdboden gleichgemacht – für sie bedeutet eine Stadt wie Charkiw mehr Schutz als sie in den vergangenen sechs Monaten hatten.
Doch bald wird ein neuer Feind auftauchen – einer, der nicht mit Waffengewalt am Eindringen gehindert werden kann: der Winter. Temperaturen von minus zehn Grad Celsius sind dann keine Seltenheit – und die Heizmöglichkeiten im ganzen Land werden knapp.
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