Sonderweg am Ende? Zweite Corona-Welle schwappt über Schweden
Dass in Schweden die Fallzahlen steigen, vermittelte nicht nur der Inhalt der jüngsten Pressekonferenz des Gesundheitsamtes, sondern auch die Form: am Dienstag fand diese erstmals rein digital statt.
Seit Freitag wurden in dem Land mit rund 10 Millionen Einwohnern über 15.770 neue Infektionsfälle festgestellt, 35 neue Todesfälle sind zu beklagen, 130 Personen liegen derzeit auf der Intensivstation.
Das sagte die junge Mikrobiologin Sara Byfors, die bei der Pressekonferenz mit sachlich-freundlicher Stimme durch die Zahlen moderierte. „Haltet Abstand zueinander, dass ist sehr, sehr wichtig“, forderte sie die Zuschauer abschließend von ihrem Homeoffice aus auf.
Infektionszahlen vervierfacht
Insgesamt starben in Schweden bisher 6.057 Personen mit oder an Covid-19, die Infektion mit dem Virus SARS-CoV-2 betraf bislang 162.240 Menschen. Innerhalb von vier Wochen hat sich die Anzahl der Fallzahlen nun vervierfacht. Derzeit setzen die Behörden 200.000 Tests pro Woche um und wollen dies jetzt auf eine unbestimmte Zahl erhöhen.
Joacim Rocklöv, Virologe an der Universität Umea, sah vor kurzem gegenüber der Zeitung Svenska Dagbladet ein hohes Risiko für eine zweite Corona-Welle. Er gilt als Kritiker des Gesundheitsamtes. Anders Tegnell, der weltweit bekannte Staatsepidemiologe der Institution, hatte zu Beginn der Pandemie eine zweite Welle in Schweden ausgeschlossen.
Zur Erinnerung: im Frühjahr vermied Schweden einen Lockdown und sorgte damit in Europa für viel Aufsehen. Geschäfte, Restaurants, Kindergärten und Schulen, ausgenommen die Oberstufen, blieben offen. Somit erlebte die Wirtschaft keine so starken Einbrüche wie Länder mit einer konsequenten Abriegelung.
Run auf Einkaufszentren
In Schweden lebt mittlerweile allerdings der Großteil der Bewohner in Regionen mit „verschärften Empfehlungen“. Dort sollen keine Freunde mehr eingeladen, keine Lokale besucht werden. Wenn möglich ist Homeoffice vorzuziehen, das Einkaufen soll auf Lebensmittel beschränkt werden.
Doch gerade bei dieser Maßnahme scheinen viele nicht mitziehen zu wollen – Stockholm und andere Städte erleben einen Run auf die Einkaufszentren, die meisten Menschen tragen keine Masken. Diese würden ein „falsches Sicherheitsgefühl“ vermitteln, meint Tegnell; darum empfiehlt das Gesundheitsamt in Stockholm etwa, lieber den Nahverkehr zu meiden, als Mund und Nase zu bedecken.
Auch die Rücknahme eines der wenigen konkreten, corona-bedingten Verbote in Schweden hat wohl Folgen. Seit Oktober können die Bewohner der Altersheime wieder von ihren Angehörigen besucht werden, dort kommt es nun zu vermehrten Ausbrüchen. Schwedische Ärzte beklagen, dass das Personal nicht umfangreich genug getestet werde.
Versagen des Sozialstaats
Dabei war das Versagen des Sozialstaats im Frühjahr das große Thema in Schweden, das für seine Wohlfahrt bekannt ist. Knapp die Hälfte der Covid-19-Opfer starb in Altersheimen, ein Viertel der Toten war vom Pflegedienst zuhause betreut worden.
Trotz allem kann Tegnell, der stets bedächtig und beruhigend auftritt, weiter auf Rückhalt in der Bevölkerung bauen. Laut jüngsten Umfragen vertrauen 72 Prozent dem Staatsepidemiologen, dessen Empfehlungen von der rotgrünen Minderheitsregierung unter Stefan Lövfen fast zur Gänze übernommen werden.
Kritik erhält Tegnell jedoch von dem Enthüllungsjournalisten Johan Anderberg, dessen Buch „Die Herde“ Anfang des kommenden Jahres erscheinen soll.
Auszüge sind schon in der Presse zu lesen. Demnach sei die „Herdenimmunität“, die Idee, einen großen Teil der Bevölkerung mit dem Virus in Kontakt zu bringen, um so letztlich die Ausbreitung zu stoppen, lange eine Strategie des Gesundheitsamts gewesen. Offiziell wurde dies von ihren Vertretern stets abgestritten.
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