Im Zentrum der Stadt, gegenüber vom obligatorischen Siegespark und dem massiven Palast der Kulturen aus der Sowjet-Ära, stehen mehrere zweistöckige Holzhäuser. Als die Deutschen diese für sich in den 1920er-Jahren bauten, faszinierte das die Russen: Drei-Zimmer-Wohnungen mit hohen Decken, großen Fenstern, einem Badezimmer und einem Herd – auch heute leben die Bewohner dieser Häuser noch zufrieden darin. Sie sind vielleicht das letzte Zeugnis einer folgenreichen Kooperation zwischen Sowjetunion und Deutschem Reich, die ab 1922 das Ziel verfolgte, chemische Kampfstoffe herzustellen.
Als geheimen Ort für die Tests suchte man das Dorf Shikhany aus – die UdSSR stellte Land zur Verfügung, Deutschland übernahm die Kosten. Das Joint Venture „Tomka“ arbeitete fortan an den Giftstoffen. Die Beziehungen der späteren Kriegsgegner verschlechterten sich bald. 1933 verließen die Deutschen den Ort und ließen Labor, Lagerhäuser, Kraftwerke, Wohnhäuser und Garagen zurück.
Die 90-jährige Galina Gorodilova lebt heute in einem der Holzhäuser. Sie war 14, als ihr Vater nach Shikhany geschickt wurde, um Chemie zu lehren. 1960 nahm Gorodilova selbst eine Stelle in einem neuen Unternehmen an, dem Staatlichen Forschungsinstitut für Organische Chemie und Technologie (GosNIIOKhT). Die Produktion der Kampfstoffe erfolgte unter absoluter Geheimhaltung. „Man hatte das Gefühl in einer Militäreinheit zu dienen – alle trugen Uniform“, sagt Gorodilova heute. „Als Ökonomin musste ich wissen, was das neue Unternehmen produziert – keiner konnte eine klare Antwort geben.“
Absolventen der besten chemischen Institute wurden in den Ort entsandt – sie fanden dort für Sowjet-Standards luxuriöse Verhältnisse vor. „Ein Hinweis darauf, dass unsere Arbeit von großer Bedeutung für die Nation war“, sagt die Pensionistin. In ihrem Fotoalbum sieht sie als elegant gekleidete junge Frau, die mit ihrem Mann flaniert oder beim Picknick sitzt. Seine Arbeit blieb streng geheim, erzählt Gorodilova. 1964 fuhr Vladislav Gorodilov geschäftlich nach Moskau – zurück kehrte er in einem Sarg. Er habe Sicherheitsprotokolle im Labor missachtet, wurde der Witwe mitgeteilt.
Viele Jahre später erfuhr sie, dass ihr Mann eine Gruppe von Wissenschaftern angeführt hatte, die die ersten Versionen des damals neuen Kampfstoffes Nowitschok entwickelten. Verletzungen und Unfälle im Labor waren an der Tagesordnung.
Vladimir Fedosov, der ab 1975 ebenfalls in der Forschungseinrichtung arbeitete, erlebte seine eigene Vergiftung so: „Ich saß vor meinem Fernseher und konnte plötzlich nichts mehr am Bildschirm erkennen. Meine Pupille war nur mehr ein Punkt – ein klares Zeichen für eine Vergiftung. Ich dachte mir bereits: ,Das ist das Schicksal...‘“. Er hatte Glück und wurde rechtzeitig mit einem Gegenmittel behandelt. Fedosov mag den Ausdruck Nowitschok (russisch für Neuling) übrigens nicht. Die Mitarbeiter des Instituts sprachen stets von der Substanz mit dem Codenamen „A“. Dessen Entwicklung sei das Hauptziel der gesamten Forschungseinrichtung gewesen. Mehr als zehn Labore in unterschiedlichen Fachgebieten seien damit beschäftigt gewesen – für die Außenwelt galt, hier werde an Unkrautvertilgungsmitteln gearbeitet.
Plagt ihn das Gewissen? Fedosov antwortet, ohne zu zögern: „Es war nicht unsere Entscheidung – wir erfüllten eine Aufgabe des Staates.“
Als die Sowjetunion kollabierte, war auch das Schicksal von Shikhany besiegelt. Das Institut ging in die zivile Produktion – von Insektiziden bis Klo-Enten.
Bis vor einem Jahr herrschte strenges Zutrittsverbot in dem Ort. Heute werden die Gebäude, in denen Nowitschok entwickelt wurde, unter staatlicher Aufsicht abgetragen – das Institutsgelände ist immer noch Sperrzone. Es gibt Gerüchte, die gesamte Region sei vergiftet. „Blödsinn“, sagt Fedosov. Laut Statistik der lokalen Behörden ist die Sterblichkeit deutlich erhöht. „Wie viele Forscher nicht mehr am Leben sind!, “, entfährt es Fedosow plötzlich. „Manche wurden nicht einmal 50.“
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