Nawalny, Jurist, 44 Jahre alt, ist – anders als viele im Westen glauben wollen – kein Liebkind der liberalen Putin-Gegner. Vielmehr gilt er den Russen als Populist; also als Charismatiker, der weiß, wie man sich inszenieren muss. In den 2000ern etwa engagierte er sich bei den extremen „russischen Märschen“, skandierte „Russland den Russen“ und „Terroristen sind Kakerlaken“ – das werfen ihm Kritiker heute noch vor. Mittlerweile hat er das Image des Nationalisten abgestreift und den Mantel des Korruptionsjägers angelegt: Er trat bei Wahlen an, obwohl ihn der Apparat daran hindern wollte, wurde zweimal in Schauprozessen verurteilt. Vor allem aber hat er mit seinem ziemlich großen, ausschließlich spendenfinanzierten Team durchschlagenden Erfolg mit Enthüllungen: Dass Ex-Premier Dmitrij Medwedew etwa sagenhaft reich ist oder Putins Familie und Freunde in dubiose Deals verwickelt sind, präsentiert er seinem Millionenpublikum – ganz Populist – nicht in den offiziellen und inoffiziellen Medien, sondern in pointierten Videos im Netz.
Der Telefonstreich, binnen 24 Stunden 13 Millionen mal geklickt, passt da dazu. Nawalny lebt vom Image des unbeirrbaren Kritikers, der mit Selbstironie Stachel im Fleisch Putins ist. Für dessen Machtapparat ist das aber freilich Gift. Im Kreml beschäftigt sich zwar eine ganze Abteilung mit dem „Blogger“ oder „Berliner Patienten“, wie man ihn ausnahmslos nennt.
Doch auch diese Truppe konnte den Lapsus des FSB nicht verhindern. „Ich schreibe schon Jahre über den FSB und dachte noch nie, dass dort tolle Profis arbeiten. Aber Nawalnys Streich ist selbst für mich ein Schock. Die sind so dumm, das macht sie noch gefährlicher“, twitterte Investigativjournalistin Irina Borogan.
Dem Kreml scheint das nicht peinlich, im Gegenteil. Dort regiert man mit Zorn – und Spott: Dass Moskau am Dienstag europäische Diplomaten einbestellt hat und Sanktionen gegen deutsche, französische und schwedische Offizielle verhängt hat, ist nicht nur eine Reaktion auf jene Sanktionen, die die EU schon zuvor gegen Russland erlassen hatte. Es ist auch eine lächerlich machende Ohrfeige für eben jene Länder, die Nawalnys Vergiftung als bewiesen ansehen. Oder, wie Putins Sprecher Dmitrij Peskow am Dienstag sagte: Er habe Nawalnys neuestes Video zwar nicht gesehen, sei aber sicher, dass „der Patient Verfolgungswahn hat, auch Größenwahn kann festgestellt werden.“ Er sei „im Freud’schen Sinne fixiert auf seine Unterhosen-Zone.“
Ein intimes Detail, das den Kreml wohl noch länger beschäftigen wird.
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