Neutralitätsfrage: Ist die Schweiz als Vermittlerin glaubwürdiger als Österreich?
Vor einem "schleichenden NATO-Beitritt" war gewarnt worden, es brauche die "neutrale Notbremse": Töne wie diese dürften Österreichern bekannt vorkommen. Doch sie stammen von der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei, der SVP, die damit für ihre "Neutralitätsinitiative" geworben hat.
132.000 Schweizer haben sie unterzeichnet, vor zwei Wochen wurde sie bei der Bundeskanzlei in Bern eingereicht. Damit dürfte (eher später als früher) eine Abstimmung über die Auslegung der Schweizer Neutralität folgen: Die SVP verlangt eine Verankerung in der Verfassung, dass die Schweiz keine Sanktionen (außer jene der UNO) übernimmt, und keinem Militärbündnis beitritt.
Laute Debatte über Neutralität
Das Mittragen der EU-Sanktionen gegen Russland, die Anschaffung amerikanischer F-35-Flugzeuge, die gemeinsame europäische Luftraumabwehr "Sky Shield" (an der auch Österreich teilnimmt), ein NATO-Verbindungsbüro in Genf – all das sorgte in den vergangenen zwei Jahren für einiges an Diskussionsstoff in der Schweiz, nicht nur bei den Rechtspopulisten. Dass überhaupt über eine künftige Auslegung der Neutralität diskutiert wird, ist etwas, das in Österreich manche vermissen.
Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP), der am Dienstag seinem Schweizer Amtskollegen, dem Liberalen Ignazio Cassis, in Bern einen Besuch abstattete, wollte "die eine oder andere Wahrnehmung", die es in Österreich von der Neutralität gebe, "richtig stellen", wie er im Vorfeld meinte.
"Waren nie wertneutral"
Neutralität, so Schallenberg, heiße nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. "Neutralität kann erst dann glaubwürdig sein, wenn man Position bezieht. Wir waren nie wertneutral und nie gesinnungsneutral. Wer glaubt, Neutralität heißt schweigen und sich zurücklehnen, gibt denen recht, die Recht brechen."
Von einer "neutralitätspolitischen Achse" war die Rede. Doch: Ganz so einfach ist es auch wieder nicht. Denn in der Auslegung ihrer Neutralität unterscheiden sich die bewaffnete und mit der NATO-kooperierende Schweiz und das EU-Mitgliedsland Österreich seit jeher. "Die Schweizer Neutralität verfügt über einen gewissen Pragmatismus", so Walter Feichtinger, Präsident des Centers für Strategische Analysen, gegenüber dem KURIER.
Die Schweiz hat sich 1815 bei der Neuaufteilung Europas auf dem Wiener Kongress als neutral erklärt - aus Angst vor einer Einflussnahme von Frankreich und Österreich. Die Neutralität gilt als selbstgewählt, dauernd und bewaffnet. Die Schweiz darf sich an keinen Kriegen beteiligen und keine Waffen an nur eine Kriegspartei liefern.
Für die Maßnahmen zur Wahrung Neutralität sorgen Bundesrat und Bundesversammlung, die Neutralitätspolitik kann je nach aktueller Regierung mal enger, mal weiter gefasst werden.
Österreich hat sich 1955 gegenüber den Besatzungsmächten verpflichtet, keinem militärischen Bündnis beizutreten, ist aber EU-Mitglied. Die Neutralität könnte mit Zweidrittelmehrheit im Nationalrat und Bundesrat geändert werden. Eine Volksabstimmung wäre nicht notwendig, in der Schweiz schon.
Die Neutralität Österreichs ist nicht Teil des Staatsvertrages, sondern in einem separaten Bundesverfassungsgesetz klar geregelt. Es besagt, dass Österreich seine Neutralität verteidigen und weder Militärbündnissen beitreten noch Militärbasen fremder Staaten auf eigenem Territorium zulassen wird.
Schweden und Finnland, lange militärisch neutrale und bündnisfreie Staaten, traten nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine der NATO bei.
Krieg hat die Parameter verschoben
Der fehle in Österreich – genauso wie die Diskussionsbereitschaft. Zudem habe der Krieg in der Ukraine die Parameter verschoben, heute gehe es wieder mehr um die Stärke der eigenen Wehrhaftigkeit, die auch für die Glaubhaftigkeit der Neutralität wesentlich sei, so Feichtinger. Darauf habe die Schweiz stets mehr Fokus gelegt – etwa mit ihrer Milizarmee –, während Österreich mehr auf die Beteiligung an internationalem Krisenmanagement gesetzt hat.
Dass sowohl Schweizer als auch Österreicher an ihrer Neutralität hängen, ist bekannt: In einer aktuellen Umfrage der Uni Innsbruck und des Außenministeriums gaben 75 Prozent der Befragten an, die Neutralität sei ein Teil der österreichischen Identität. Ähnliche Umfragen in der Schweiz liefern noch höhere Werte. Über 60 Prozent der Befragten glaubten, dass die Neutralität Österreich zu einer attraktiven Vermittler-Rolle verhelfe.
Schweiz soll Friedensgipfel ausrichten
Doch vielmehr stellt sich die Frage, wie Österreichs Neutralität im Ausland gesehen wird. Tatsächlich hat der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij die Schweiz mit der Ausrichtung eines Friedensgipfels im Juni beauftragt – und nicht Österreich.
Die Einladungen seien noch nicht verschickt, so der Schweizer Außenminister Cassis am Dienstag, doch sollen so viele Teilnehmer wie möglich am Tisch sitzen. Vor allem Länder des Globalen Südens, von denen man hofft, dass ihnen Moskau mehr Gehör schenken würde als den westlichen Staaten.
2023 wurden in Österreich 16.000 aktive Soldaten und rund 35.000 Milizsoldaten gezählt. Die Milizarmee der Schweiz umfasst rund 147.000 mobilisierbare Soldaten, darunter aber nur knapp über 3.000 Berufssoldaten.
Im Jahr 2022 betrugen die Militärausgaben in Österreich 0,77 Prozent des BIP, in absoluten Zahlen rund 3,5 Milliarden Euro. In der Schweiz war der Anteil fast ident: 0,76 Prozent des BIP (rund 5,9 Milliarden Schweizer Franken, das sind umgerechnet 6 Milliarden Euro).
Hätte auch Österreich diesen Gipfel gerne ausgetragen?
Außenminister Schallenberg begrüßt die Initiative, warnt jedoch vor einer "Echokammer", es dürfe nicht nur mit bereits "Bekehrten" gesprochen werden. Russland ist bekanntlich nicht eingeladen. Außenminister Cassis will mit der Konferenz den Weg für den Friedensprozess eröffnen: "Die Alternative wäre nichts tun, und das wäre für uns nicht der richtige Weg." Langfristig, so der Schweizer, gebe es aber keinen Friedensprozess ohne Russland.
Feichtinger sieht die Schweiz als Vermittlerin in einer "glaubwürdigeren Position als Österreich". Den Gipfel vergleicht er mit dem "Bohren dicker Bretter: Man muss einfach anfangen. Wichtig ist, eine positive Dynamik zu schaffen. Dann werden sich auch fehlende Akteure überlegen, ob sie bei einem nächsten Treffen nicht dabei sein sollten."
Anm: Der KURIER begleitete Außenminister Alexander Schallenberg nach Bern, einen Teil der Kosten übernahm das Ministerium.
Kommentare