Saudi-Arabiens Zukunftsstadt NEOM: Das Blendwerk des Kronprinzen
Spiegel sind seit jeher beliebter Aufputz für absolutistische Monarchen. Die Vision, die Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman (kurz: MbS) in der Wüste der Provinz Tabuk umzusetzen versucht, lässt aber selbst den Spiegelsaal von Louis XIV. auf Schloss Versailles ärmlich aussehen. Eine 500 Meter hohe, 170 Kilometer lange, verspiegelte Stadt soll aus dem Sand aufragen und mehr als neun Millionen Menschen eine Heimat werden.
Mit NEOM, der Stadt der Zukunft, arbeitet Saudi-Arabien gerade an dem wohl ambitioniertesten Bauprojekt der Geschichte. Dass dabei erstmals das Rote Meer mit einer gewaltigen Brücke überspannt werden und das größte Wasserstoffkraftwerk der Welt entstehen soll – geschenkt. Beides macht weniger als zwei Prozent der geschätzten Projektkosten von 500 Milliarden Dollar aus.
Wahnwitzig erscheinen dagegen die drei geplanten Stadtteile:
Sonderverwaltungszone
Auf einer Fläche von 26.500 , mehr als Niederösterreich, entsteht die Region NEOM – ein Kofferwort aus Neo (neu) und dem arabischen Wort für Zukunft (Mustaqbal). Ein eigenes Steuer- und Rechtssystem soll viele Ausländer anlocken
500 Milliarden Dollar sind für das Projekt vorgesehen, der saudische Staatsfonds garantiert für die Investitionen
9 Mio. Menschen sollen 2045 in NEOM leben und nur mit erneuerbarer Energie versorgt werden
Unfassbare Ausmaße
Das Wirtschaftszentrum Oxagon vor der Küste des Roten Meeres soll als Erstes fertig werden und wird bereits als „Silicon Valley des Nahen Ostens“ beworben. Der Großteil der Einwohner von NEOM soll hier künftig in Bürotürmen auf aufgeschütteten Inseln für globale Großkonzerne arbeiten. Bisher steht nur der nahe gelegene Flughafen, der noch auf ein Vielfaches seiner heutigen Größe anwachsen soll.
Das Herzstück von NEOM bildet „The Line“ – ein einziges, aus zwei 500 Meter hohen Parallelstrukturen bestehendes Gebäude, das von der Küste bis in die Berge reicht. Darunter werde die „Spine“ verlaufen: ein U-Bahn- und Versorgungsnetz. Der Glaskoloss soll schon 2030 die ersten Bewohner beherbergen und 2045 fertiggestellt sein.
500 Meter hoch, 200 Meter breit und 170 Kilometer lang: Die Ausmaße von "The Line" sollen gigantisch sein.
Bisher sieht man davon an der saudischen Küste aber noch nichts.
Innen soll das gewaltige Konstrukt ausgiebig begrünt sein - und zu 100 Prozent mit nachhaltiger Energie versorgt werden.
2030 werden die ersten Bewohner in "The Line" erwartet, wenn es nach den Planungen geht. Bis 2045 sollen hier neun Millionen Menschen leben.
In den Bergen hinter „The Line“ entsteht schließlich die Tourismus-Region Trojena: Eine gewaltige Stahlkonstruktion soll dort das Becken für einen künstlichen See bilden, für den Wasser aus dem Roten Meer in die Berge gepumpt wird. Bei Wintertemperaturen zwischen null und fünf Grad Celsius soll man hier von Dezember bis März auf Kunstschnee Ski fahren können.
Für das Olympische Komitee war das Vorhaben realistisch genug, die Asien-Winterspiele 2029 an das saudische Trojena zu vergeben.
Auf Sand und Blut gebaut
„Es klingt toll, aber das Projekt hat keine Chance, rechtzeitig fertig zu werden. Ein Fakt, der zunehmend peinlicher wird, je näher das Jahr 2030 rückt“, schreibt der ehemalige BBC-Außenkorrespondent Tim Marshall in seinem Buch „Die Macht der Geographie“. Zu stark habe die Pandemie die saudische Wirtschaft getroffen. Der ausbleibende Pilger-Tourismus nach Mekka habe den Staat alleine im Jahr 2020 mehr als 12 Milliarden Dollar gekostet.
Der Mega-Wolkenkratzer „The Line“ wirft auch abseits der Kosten- und Zeitfaktoren schon jetzt einen langen Schatten: Um Platz zu schaffen, werden 20.000 in der Region ansässige Beduinen zwangsweise umgesiedelt.
„Unsere Heimat steht zum Verkauf“, klagte der Aktivist Abdulrahim al-Howeiti 2020 in einem vielfach geklickten Online-Video. Nur Wochen später wurde er von saudischen Soldaten erschossen – offiziell heißt es, er habe sich seiner Verhaftung widersetzt.
Das Schicksal al-Howeitis mag als weiteres trauriges Beispiel für den Führungsstil des Kronprinzen MbS gesehen werden, der das Land seit fünf Jahren in Vertretung seines schwer kranken Vaters führt und vor allem seit dem Auftragsmord am saudischen Journalisten Jamal Khashoggi berüchtigt ist. Doch die Vehemenz, mit der der 36-Jährige „sein“ Königreich allen Widerständen zum Trotz im Eiltempo umkrempelt, ist aus der Not heraus geboren.
Das Öl geht zur Neige
Selbst in den optimistischsten Prognosen wird Saudi-Arabiens Öl in spätestens 50 Jahren aufgebraucht sein. Die Wirtschaft muss also schleunigst neu aufgestellt werden, wenn das Reich seinen Wohlstand nicht verlieren will. Seit 2017 wirft MbS daher alte gesellschaftliche Strukturen über Bord, um das Land auch für Touristen attraktiver zu machen – mit allen Mitteln.
Seine Herrschaft brachte eine Rekordzahl an Hinrichtungen, Morde an Regimekritikern im Ausland sowie einen Stellvertreterkrieg mit dem Iran im Nachbarstaat Jemen. Aber auch neue Rechte für Frauen, eine Einschränkung des politischen Islams und Rekordinvestitionen in die Entwicklung erneuerbarer Energien.
Ein Blick in die Region zeigt, dass die Megastadt angesichts der (noch) enormen Ressourcen mehr sein könnte als ein Hirngespinst des Kronprinzen: Selbst die heutige Glamour-Metropole Dubai in den benachbarten Vereinigten Arabischen Emiraten war vor vierzig Jahren noch Utopie. Heute ist sie die viertmeistbesuchte Stadt der Welt und beherbergt mit dem Burj Khalifa das höchste Bauwerk der Welt.
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