Ein Sonntag Anfang April, Patriarch Kirill steht am Altar und hat die Hände erhoben. "Verteidigt euer Land, wie es nur Russen können!", ruft er den Soldaten zu. Der Boden, auf dem sie stehen, ist aus Metall, man hat ihn eingeschmolzen aus Waffen der Nazis. Die Wände sind voller Schlachtszenen aus dem Zweiten Weltkrieg, Engel fliegen über Kalaschnikows. Kirill sagt: "Wir haben damals dem Faschismus das Rückgrat gebrochen. Gott wird uns auch diesmal helfen."
Was das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche da in der "Kirche der Streitkräfte" sagt, wirkt wie Hohn. 800 Kilometer entfernt werden zeitgleich die verstümmelten, gefolterten Körper jener Menschen entdeckt, die russische Soldaten in Butscha mutmaßlich ermordet haben sollen. Die Welt ist sprachlos über dieses Grauen.
Wer ist der Mann, der hier im Namen Gottes Krieg und Zerstörung predigt? Den der Westen seit Langem auf die Liste jener setzen will, die Putins Krieg mittragen, der dieser Strafe aber bisher dank Viktor Orbáns Blockade in Brüssel entging?
Die Geschichte von Kirill I., bürgerlich Wladimir Gundjaew, könnte klassisch-sowjetischer nicht sein. Aufgewachsen in einer Priesterfamilie in Leningrad, war der heute 75-Jährige nach seiner Weihe – wie die meisten Kirchenmänner damals – beim KGB. Allerdings nicht nur als Informant: Unter dem Decknamen Michailow diente er als Offizier.
Der Zigarettenmetropolit
Nach dem Zerfall der UdSSR nutzte er geschickt die neue Freundlichkeit des Kreml der Orthodoxie gegenüber; irgendwie musste die ideologische Leerstelle des Kommunismus ja gefüllt werden. Kirill, ausgestattet mit besten Kontakten nach oben, wurde Verbindungsmann für Auslandsbeziehungen, füllte als solcher die nach Jahren der Sowjetunterdrückung klammen Kassen der Kirche: Jelzin hatte es der Kirche gestattet, steuerfrei mit Zigaretten und Alkohol zu handeln. Millionen seien so über Kirill geflossen, heißt es.
Bis heute sollen daraus bis zu acht Milliarden Dollar geworden sein, schätzt die Nowaja Gazeta – Geld, das nicht nur aus dem Verkauf von Kerzen und Ikonen kommt. Kirill ist in Geschäfte mit Öl, Juwelen, Autos involviert, stolperte über Skandale wie eine 30.000-Euro-Uhr am Handgelenk, die die Kirche ungelenk aus Fotos retuschierte. Dass er sein Vermögen von Putins Gnaden angehäuft hat, steht für Beobachter außer Frage: Nicht nur, weil das bei allen Oligarchen so ist, sondern weil Kirill Putin gute Dienste erweist.
Putin hat die Orthodoxie schon seit Amtsantritt zu seinem korrupt-spirituellen Arm umzuformen versucht, fütterte sie mit Staatsgeld, ließ andere Glaubensgemeinschaften verfolgen. Kirill setzte ihm dafür Denkmäler – in monströsen Sakralbauten wie eben der Kirche der Streitkräfte Russlands prangte dafür Putins Konterfei neben dem von Stalin.
Auch wenn Putin sein Bild entfernen ließ, weil ihm das doch zu viel war: Kirill, der Putins Herrschaft "ein Wunder Gottes" nannte, verschafft ihm so göttlichen Segen. Er legitimiert seine Politik und seine Kriege – ganz so, wie es bei den Zaren war.
"Putins Ministrant"
In der Ökumene hat sich Kirill so wenig Freunde gemacht. Mit dem Patriarchen von Konstantinopel spricht er seit 2019 nicht mehr, als der die abgespaltene ukrainisch-orthodoxe Kirche als eigenständig anerkannte; Papst Franziskus warf ihm vor, ein "Ministrant Putins" zu sein.
Kirill scheint das kaum zu tangieren. Er lebt den Glauben, Moskau sei das "dritte Rom", die letzte Bastion gegen die Verderbtheit des Westens, der Russland "umerziehen" wolle. Orbán, sein Retter, ist ihm Geistesbruder: Auch er nennt sich Verteidiger des Abendlandes.
Mögliche Sanktionen aus dem "Sündenpfuhl" Brüssel kommentiert er nicht. Ganz egal dürften sie ihm nicht sein. Denn sein Vermögen, das eingefroren würde, lagert nicht im "heiligen Russland", sondern in Italien, der Schweiz – und in Österreich.
Staatskirche
Offiziell gibt es in Russland die Trennung von Staat und Kirche, Putin ideologisiert die Orthodoxie aber als Staatsreligion. Baptisten und Zeugen Jehowas werden fürs "illegale Missionieren" teils strafrechtlich verfolgt, ähnlich wie Regime-Gegner.
150 Millionen Mitglieder hat die russisch-orthodoxe Kirche, den Großteil in Russland. 1991 sahen sich 30 Prozent der Russen selbst als gläubig an, 2017 waren es 70 Prozent. In der Ukraine haben sich mittlerweile beide orthodoxen Kirchen mit Sitz in Kiew vom Moskauer Patriarchat losgesagt – zum Ärger Kirills.
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