Fehlende Strategie gegen Putin: "Europa investiert kein Gramm Hirn"
In der SPD gibt es nur mehr wenige, die mit ihm reden, sagt Gustav Gressel. Der Militärexperte aus Salzburg, der als Fellow am Council on Foreign Relations in Berlin forscht, ist seit Beginn der russischen Invasion oft in den Medien, weil er ein besonders klarer und auch scharfzüngiger Analytiker ist.
In der Politik will man das nicht immer hören. Mit dem KURIER spricht Gressel über eben diese Scheuklappen, warum die Europäer nicht an einem Strang ziehen - und wieso Joe Biden das Schicksal der Ukraine gar nicht so wichtig ist, wie er vorgibt.
KURIER: Warum ist Europa nach zwei Jahren Krieg weit davon entfernt, eine gemeinsame Strategie zu haben? Und das, obwohl ein Präsident Trump ins Haus steht, der die Ukraine und damit Europa allein lassen würde?
Gustav Gressel: Eine wirklich vernünftige Erklärung habe ich nicht. Aber man kann das am Beispiel Deutschlands erklären: Die Deutschen waren 2022 überzeugt, dass Putin blufft, dass der Krieg nicht kommt – weil sie die Russen besser verstehen als alle anderen. Damit sind sie auf die Nase gefallen.
Danach hat Berlin seinen Sonderweg verlassen, wurde braves NATO-Mitglied – seither lehnt Scholz sich an den USA an. Man liefert Waffen, weil die anderen es auch tun; nicht, weil es einen Plan gibt. Auch Bidens außenpolitische Prioritäten wurden voll übernommen. An erster Stelle steht die Eskalationsverhinderung, nach dem Motto: Verliert die Ukraine, ist das immer noch besser als eine Eskalation.
Experten zufolge droht aber genau dann eine große Eskalation, also ein neue, großer Angriff Russlands. Hat der Westen eine Vorstellung davon?
Teilweise ja. Aber bei den Amerikanern ist der Krieg neben China und dem Mittleren Osten nur einer von vielen Problemfällen. Man behält Waffen für den Fall zurück, dass die Lage in China eskaliert, und Deutschland fährt da einfach mit: Es wird nicht hinterfragt, was die Amerikaner machen, und eine eigene Strategie wird nicht entworfen.
Aus amerikanischer Sicht ist das nachvollziehbar, die USA sind eine Weltmacht. Man hat den Atlantik und viele Verbündete zwischen sich und den Russen, brutal gesagt: Ein Land mehr oder weniger ist egal. Aus europäischer Sicht ist die Strategielosigkeit völlig unverständlich. Hier verschiebt sich die Geografie viel gewaltiger, für uns steht viel mehr auf dem Spiel – trotzdem investiert man kein Gramm Hirn und keinen Euro mehr als die Amerikaner. Wo man hinwill, bleibt komplett unbeantwortet.
Bleibt die Frage vielleicht auch unbeantwortet, weil es einfach keine gemeinsame europäische Antwort gibt? Weil die Staaten zu unterschiedlicher Meinung sind?
Ja. Die Franzosen waren früher auch im Fahrwasser der Amerikaner und der Deutschen, doch seit dem Frühling ist Macron völlig umgeschwenkt. Er soll zwei Briefings seiner Nachrichtendienste erhalten haben; sie betrafen die interne Subversion der Russen in Frankreich und die russischen Kriegspläne nach dem Endsieg in der Ukraine. Das dürfte Macron dazu angespornt haben, auf den Kurs der Polen, Balten, Dänen, die Schweden, die Norweger und Finnen einzuschwenken.
In Deutschland wird währenddessen von einem Einfrieren des Konflikts gesprochen.
Ja. Aber selbst wenn sich Scholz‘ Wunschkonzert vom Einfrieren der Front samt Waffenstillstand durchsetzt, muss man den absichern. Dann müsste es sofort einen NATO-Beitritt der Rumpfukraine geben, um Russland eine rote Linie aufzuzeigen. Aber in Washington und in Berlin hält sich die Phantasie, dass man aus der Ukraine ein „Stachelschwein“ machen kann, das sich auch ohne NATO verteidigen kann, nach dem Modell Israel. Aber Israel ist eine Atommacht - das ist einfach nicht zu vergleichen.
Zudem vergisst man die ukrainische Gesellschaft. Im Falle eines Einfrierens würden viele Menschen das Land verlassen – die sagen sich, in drei Jahren ist ja wieder Krieg. Fraglich ist auch, wie viele Investoren in die Ukraine gehen, wenn sie wissen, dass der Krieg wahrscheinlich wieder ausbricht. So würde die EU Milliarden versenken, ohne dass es etwas bringt.
Einige europäische Länder haben darum begonnen, Geld vermehrt in ihre eigene Sicherheit zu stecken – etwa Polen. Schrumpfen die Aussichten, dass die Ukraine einem das Problem Russland abnimmt, wird in die eigene Armee investiert – weil man kein Vertrauen hat, dass Washington und Berlin die nötige Unterstützung liefern.
Rechnet Europa also damit, dass die Ukraine zum dysfunktionalen Rumpfstaat wird?
Die russische Armee ist jetzt auf der zweifachen Stärke wie 2022, die ukrainische unter ihrer Stärke von damals. Wenn die westliche Unterstützung so weitergeht, brauchen wir nicht mehr über einen Rumpfstaat diskutieren. Die Russen wollen das ganze Land haben.
In Europa fehlt auch dafür die Weitsicht. Die Planungen für Unterstützungsleistungen sind maximal zwei Wochen im Voraus gedacht, in den USA sind es drei bis sechs Monate. Als die Russen im April die Wasser- und Kohlekraftwerke weitgehend zerstört haben, lag das daran, dass die Ukraine keine Munition der Fliegerabwehr mehr hatte. Das war seit einem Jahr bekannt, dass die ausgeht. Nach dem Angriff kamen dann die Hilfspakete – wieso nicht vorher?
Sie sagen, diese Zögerlichkeit dient der Eskalationsvermeidung. Aber nicht nur Emmanuel Macron wird von Putins Kriegsplänen und der Bedrohung für Europa wissen, oder?
Natürlich. Aber in Washington liegen eben die chinesischen Pläne für Taiwan auf dem Tisch, dazu der Nahe Osten. Eine Mittelabdeckung für alle Fronten funktioniert nicht.
Das sieht man an den Kurzstreckenraketen ATACMS. Die waren auch Teil diverser Abwehrpläne in Korea, darum bekamen die Ukrainer sie nur nach Überschreitung des Ablaufdatums, also die Auslaufmodelle. Die jetzigen Schübe an ATACMS kamen, weil das Nachfolgemodell für die Rakete in Produktion ist.
Öffentlich ist die Regierung Biden sehr pro-ukrainisch, im Hintergrund steht sie auf der Bremse. Warum?
Dafür gibt es zwei Gründe. Biden war als Vizepräsident unter Obama für den Reformprozess in der Ukraine zuständig. Da hat er sich in die ganzen innenpolitischen Kleinkriege mitgemacht – und das hat ihn verbrannt. Er denkt bis heute, man könne den Ukrainern nicht vertrauen. Dass sich dort viel verändert hat, gerade in puncto Korruption, sieht er nicht.
Dazu hat das Vertrauen der Amerikaner in das ukrainische Militär unter der Vorkriegssituation sehr gelitten. Selenskij hat damals die Warnungen der USA in den Wind geschlagen und sich beschwert, als die USA ihre Firmen abzogen. Generalstabschef Zaluschnij hat zudem die Abwehrpläne der Ukraine nicht mit US-General Mark Milley geteilt, aus Angst davor, sie könnten über die USA in die Öffentlichkeit gelangen. All das hat das Vertrauen in die Ukraine untergraben. Agiert wird darum nur, wenn der Druck aus der Öffentlichkeit groß, aber - böse formuliert - nimmt man den Untergang des Landes in Kauf. Schließlich waren es ein unbotmäßiger Alliierter.
Spricht man das an, reagieren Washington wie Berlin dünnhäutig, da fehlt die Kritikfähigkeit. Das ist ein großer Kindergarten, und das macht sogar dieses Durchwursteln schwer, das wir jetzt praktizieren. Mit einer Strategie braucht man da gar nicht anzufangen.
Wie sinnvoll ist die Debatte, die Emmanuel Macron über die Stationierung von NATO-Soldaten in der Ukraine begonnen hat?
Die Debatte ist falsch abgelaufen. Was Macron für den Extremfall vorgesehen hätte - die Stationierung von Kampftruppen - ist eigentlich das Unsinnigste: Wenn wir keine Generalmobilmachung erklären, würden sich unsere Landstreitkräfte in der Ukraine völlig verlieren, die Zahl reicht bei weitem nicht aus. Bei den Luftstreitkräften hätten wir zwar einiges zu bieten – aber nur für eine Woche, dann wäre die Munition aus.
Worauf Macron abzielte, war Militärberatung, Unterstützung bei der Ausbildung. Wenn man vor Ort ist, kann man Unterstützungsmaßnahmen und auch rüstungsindustrielle Nachsteuerungen viel effizienter gestalten. Rechtlich wäre aber auch das eine Grauzone. Eine elegante Lösung wäre eine Akkreditierung der Soldaten als Militärattachés, so hätten sie diplomatischen Status. Da verbeult man den nationalen Rechtsrahmen, aber bricht ihn nicht.
In der Ukraine gibt es einen großen Spalt zwischen der Zivilgesellschaft, die teils lebt wie vor dem Krieg, und den Soldaten an der Front. Haben Sie das auch so wahrgenommen?
Am krassesten ist es in Kiew. Die Ukrainer schätzen, dass die Stadt mittlerweile auf sechs Millionen Menschen angewachsen ist. Dort geht das Leben normal weiter, weil die Fliegerabwehr gut ist, die Wirtschaft boomt, es gibt Diskotheken und Cafés. Die Soldaten, die da durch gehen, schauen das wie im Zoo an, das ist eine fremde Lebenswelt.
Nach dem Krieg wird es deshalb noch große Schwierigkeiten geben – der Frust zwischen denen, die sich gedrückt haben und denen, die gekämpft haben, ist enorm. Das birgt auch die Gefahr, dass das nach dem Krieg politisch ausgenutzt wird: Etwa, wenn ein ukrainischer Orban kommt und sagt, der Westen hat uns verraten und nur als Stellvertreter missbraucht.
Stimmt der Vorwurf nicht zum Teil?
In Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg haben die USA den Antiamerikanismus selbst unabsichtlich genährt, weil sie sich politisch dumm angestellt haben. Auch in der Ukraine machen die Amerikaner viele Fehler: Dass man nicht mal sagt, die Ukraine könne nach dem Krieg der NATO beitreten, erzeugt großen Frust. Biden hat jetzt sogar öffentlich zugegeben, dass er die Ukraine auch langfristig nicht in der NATO sieht, weil er das Land für zu korrupt und problembehaftet hält. Ich denke, in Berlin denken sie dasselbe - aber sie sagen es nicht öffentlich.
Dabei wären die Amerikaner die einzige Macht, die der Ukraine zum Sieg verhelfen kann. Bei den Europäern kann man darüber streiten, ob sie nur nicht wollen, sondern auch gar nicht können.
Wie reagiert die Führung in Kiew darauf?
Dort wissen sie, dass sie keine Alternative haben. Wird er Krieg nicht weitergeführt, werden sie durch die Russen erschossen. Sie denken sich: Das sind Idioten, aber das sind die einzigen Idioten, die wir haben.
Sie beraten auch die deutsche Politik. Wie reagiert die, wenn Sie vor Europas Strategielosigkeit warnen?
Grüne und FDP sehen das völlig ein. Aus der SPD gibt es nur mehr wenige, die mit mir reden, der Rest stellt sich auch keiner ernsten Diskussion. Aber auch innerhalb der Regierung wird über das Thema mehr gestritten als gesprochen. Baerbock und Scholz sind auf zwei verschiedenen Dampfern, die FDP ist gespalten. Das ist hoch kurzsichtig – es so läuft es leider.
Sie sind Österreicher, leben aber in Berlin. Versteht man von außen, warum Österreich an der Neutralität festhält und ein NATO-Beitritt gar nicht diskutiert wird?
Rationalen Grund sehe ich keinen, sogar in der Schweiz wird darüber intensiv diskutiert. Aber die Schweiz hat ein anderes Eigeninteresse, sie ist bei Rüstungsindustrie und -forschung viel stärker mit Europa verwoben als Österreich. Da gäbe es Kollateralschäden durch die Neutralität, wenn etwa Kooperationen wie bei der ESA aufgekündigt würden. Und wenn man es irrational sieht, sollte einen das nicht überraschen – sofern man Thomas Bernhard gelesen hat.
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