Ruhe vor dem Sturm: Angst vor dem Blutvergießen im Donbass wächst

Der russische Großangriff auf den Donbass steht unmittelbar bevor – davor warnen sowohl internationale Beobachter als auch die Regierung in Kiew täglich, seit sich die Angreifer vor gut zwei Wochen aus dem Norden des Landes zurückgezogen haben.
Erst am Samstag hatte Russlands Präsident Wladimir Putin den Oberbefehlshaber der Offensive ausgetauscht und Alexandr Dwornikow eingesetzt, den einstigen Kommandanten der russischen Armee in Syrien. Unter seinem Befehl soll sich die gesamte Angriffsmacht künftig auf einen einzigen Ort zentrieren, um die ukrainischen Stellungen gesammelt zu durchbrechen.
Seit Tagen ist ein kilometerlanger Konvoi russischer Panzer auf dem Weg in den Osten. Genau wie die abgezogenen Truppen aus dem Großraum Kiew, die völlig neu aufgestellt werden.
"Keine Grabenkämpfe wie im Ersten Weltkrieg"
Schon seit Wochen baut die ukrainische Armee entlang der Frontlinie zu den Separatistengebieten im Donbass ihre Verteidigung aus: Schützengräben werden ausgehoben, strategische Punkte verstärkt, Straßen und Felder vermint.
„Solche Verteidigungen bremsen einen Angriff natürlich, sind heutzutage aber nicht mehr unüberwindbar“, sagt der Militäranalyst Franz-Stefan Gady zum KURIER. „Moderne Kampfverbände inklusive Panzer und Artillerie sind darauf ausgerichtet, solche Stellungen zu durchbrechen. Man sollte also keine starre Frontlinie voller Grabenkämpfe wie im Ersten Weltkrieg erwarten, jedenfalls nicht am Anfang der Offensive.“
Stattdessen deute alles auf eine „mechanisierte Schlacht“ hin, also schwere Gefechte zwischen Militärfahrzeugen und Panzerverbänden sowie schwerer Artillerie, so Gady. Die russische Armee sei genau darauf ausgelegt.
Dass die Russen versuchen werden, die Linie hinter den ukrainischen Truppen schnell zu schließen und sie einzukesseln, hält der Experte für unwahrscheinlich: „Würden sie das zu schnell anlegen, wären sie selbst viel zu verwundbar.“ Er rechne stattdessen mit einem langsamen Vormarsch aus dem Norden und Süden der Region, „begleitet von heftigem Artilleriebeschuss der ukrainischen Stellungen“.
Sobald der Großangriff im Osten beginnt, „wird auch eine neue Phase des Krieges beginnen, mit noch einmal größeren Verlusten auf beiden Seiten“, ist sich Gady sicher.
Wann beginnt der Großangriff?
Wann es soweit kommt, bleibt unklar. Unter europäischen Geheimdiensten soll zuletzt von einer „Oster-Offensive“ die Rede gewesen sein. Der ukrainische Gouverneur des Oblasts Lugansk, Serhij Hajdaj, erklärte am Samstag, der Ansturm der Russen sei angesichts zunehmender Luftangriffe „nur noch eine Frage von Tagen“.

Ein ukrainischer Schützengraben im Donbass.
Um wirklich alle Kräfte auf den Donbass fokussieren zu können, müsste die russische Armee jedenfalls zuerst die immer noch belagerte Hafenstadt Mariupol erobern. Dort dauern die Kämpfe weiter an, auch wenn die Zahl der Verteidiger am Mittwoch weiter sank: Das russische Verteidigungsministerium verkündete die Kapitulation von rund 1.000 Soldaten.
Die verbliebenen knapp 2.000 ukrainischen Kämpfer verschanzen sich im Industriekomplex der örtlichen Stahlwerke, wo sie ein unterirdisches Tunnelnetzwerk besetzen sollen, das noch aus der Zeit der Sowjetunion stammt. Je länger die Verteidiger in diesen Tunneln ausharren, desto mehr Zeit könnten sie den Kameraden im Donbass verschaffen.
Das letzte Gefecht um Mariupol bekommt damit eine historische Dimension, die in Russland bestens bekannt sein sollte: Bei der Schlacht um Stalingrad im Zweiten Weltkrieg war die Wehrmacht einst am Stahlwerk „Roter Oktober“ aufgerieben worden.

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