Hätte das geplante "European Sky Shield" die Rakete abfangen können?
Es wäre jedenfalls gelungen, wenn ein Abschussstation in direkter Nähe gewesen wäre, sagt Reisner, der sich für einen derart ausgebauten Schutzschirm auf europäischer Ebene ausspricht. Genauso wie für eine Teilnahme Österreichs an dem Schirm – trotz Neutralität: "Denn die Rakete macht keinen Unterschied zwischen einem neutralem Staat oder nicht."
War das der erste derartige Vorfall?
Nein. Bei der ukrainischen Rakete handelte es sich nicht um den ersten Querschläger dieses Krieges auf europäischem Boden: Im März verirrte sich eine Drohne des Typs Tupolew M-141 über Rumänien und Ungarn nach Zagreb. Die Drohne hatte einen Sprengkörper an Bord und war ursprünglich von ukrainischen Streitkräften in die russisch besetzten Gebiete geschickt worden.
Moskau wirft der NATO "Fake News" vor und behauptet, ja gar keine Waffen zu besitzen, die bis nach Polen reichen. Stimmt das?
Nein. Russland verfügt natürlich über strategische Waffen, etwa Interkontinental-Raketen, die mit Atomköpfen ausgestattet sind, die leicht bis nach Europa kämen. Andere Raketen müssten für einen Angriff auf Mitteleuropa diese Distanz gar nicht erst zurücklegen, sondern könnten von Flugzeugen aus starten. Solche Raketen nutzt Moskau bereits für Angriffe aus dem belarussischen Luftraum. Dazu kommen Raketen, die auf seegestützten Systemen gestartet werden können, etwa von U-Booten oder Kampfschiffen im Schwarzen Meer.
Kommt es jetzt zu einer offenen Konfrontation zwischen der NATO und Russland? Oder ist die NATO schon längst Kriegspartei?
Auch als noch nicht klar war, dass es keine russische, sondern ukrainische Abwehrraketen waren, die in Polen eingeschlagen sind, reagierte die NATO besonnen. Kurz danach stand ohnehin fest: Es gab keinen gezielten Angriff Russlands auf ein NATO-Land. Damit musste auch nicht der Bündnisfall (Artikel 5) ausgerufen werden, wonach alle NATO-Staaten gemeinsam das angegriffene Land verteidigen.
Die NATO sieht sich explizit nicht als Kriegspartei. Sie entsendet keine Soldaten in die Ukraine und hat keine Luftraumschließung durchgesetzt. Nicht einmal die massive Waffenhilfe für die Ukraine läuft über die NATO, sondern über eine eigens gegründete Ukraine-Verteidigungs-Gruppe unter Führung der USA. Wichtigstes Ziel der NATO: keinen direkten Krieg mit Russland.
Was passiert, wenn sich solche Zwischenfälle häufen?
Mit Sicherheit werden die NATO-Staaten die Luftabwehr an ihrer Ostflanke erhöhen. Jeder künftige, mögliche Vorfall werde einzeln untersucht, schildert ein Militärexperte in Brüssel dem KURIER. Sollten tatsächlich russische Raketen auf NATO-Territorium einschlagen, und das mehrmals, würde das Eskalation bedeuten: "Aber bisher haben NATO und die russische Armee genau gewusst, wo ihre roten Linien sind. Und die liegen darin, eine direkte Konfrontation zu vermeiden."
Der Vorfall ereignete sich im Rahmen eines groß angelegten Bombardements Russlands auf die Ukraine. Wie steht es um die Energieinfrastruktur der Ukraine aktuell?
Dem ukrainischen Präsidenten Selenskij zufolge war der Angriff am Dienstag der stärkste auf Infrastrukturobjekte seit Beginn des Krieges. Zeitweise sollen zehn Millionen Menschen ohne Strom gewesen sein. Teile der Stromversorgung konnten wieder hergestellt werden, doch bis zu 60 Prozent der kritischen Infrastruktur dürften nachhaltig beschädigt worden sein. Laut Reisner wird ernsthaft überlegt, Kiew wegen der fehlenden Energieversorgung zu evakuieren.
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