Der Zick-Zack-Kurs der Behörden und der Machthaber zwischen Lockerheit und Härte ist nur auf den ersten Blick planlos. Denn seit Wladimir Putin Ende Mai ein Verfassungsreferendum für den 1. Juli ansetzte, sind die Regierungen auf allen Ebenen angehalten, den Alltag möglichst rasch wieder einkehren zu lassen. Die Abstimmung sollte ursprünglich im April stattfinden, musste jedoch verschoben werden.
Nun sollen die Russen möglichst rasch über eine ganze Reihe von Änderungen des Grundgesetzes abstimmen. Die sollen etwa den Umweltschutz und soziale Garantien in der Verfassung verankern. Aus Kreml-Sicht wichtig ist jedoch nur, dass Putin durch eine Ausnahmeregelung im neuen Verfassungstext zwei weitere Amtszeiten als Präsident verbringen kann. Seine Nachfolger dürfen dann nur noch maximal zwei Mal gewählt werden.
Am Dienstag ließen Quellen aus Moskaus Stadtregierung und Putins Administration in die Presse durchsickern, die weitgehende Lockerung der Quarantäne solle die Stimmung der Menschen im Land vor dem Urnengang schnellstmöglich aufbessern. Das Ende des Lockdowns in der Hauptstadt, die vielen anderen Städten als Leitbild gilt, sei in Eile und auf Druck des Kreml beschlossen worden, berichtete das unabhängige Nachrichtenportal Meduza. Der Kreml habe zuvor durch eigens beauftragte Umfragen eine steigende Proteststimmung registriert. Vor allem die Corona-Beschränkungen seien dafür verantwortlich.
Den Ärger der Russen bestätigen auch private Umfrageunternehmen, wie das Levada-Institut. Demnach erklärten sich jüngst rund 28 Prozent der Befragten bereit, auf Demonstrationen zu gehen. Doch der Unmut richtete sich nicht allein gegen den Lockdown. Auch Putins Popularität befindet sich seit Wochen angesichts der Wirtschaftskrise und mangelnder sozialer Unterstützung auf dem Tiefpunkt. Bei einer Levada-Umfrage nannte zuletzt nur ein Viertel der Russen Putins Namen auf die Frage, welchem bekannten Politiker sie am meisten vertrauten. Noch vor drei Jahren lag der Wert bei knapp 60 Prozent. Zu allem Überfluss kommt Kritik nun sogar von der sonst zahmen Opposition im Parlament, der Duma. Die Kommunisten, Russlands zweitgrößte Partei, haben ihre Wähler vor wenigen Tagen dazu aufgerufen, gegen die Änderungen zu stimmen.
Unter diesen Voraussetzungen will der Kreml, passend zu seiner Zick-Zack-Taktik, trotz aller Lockerungen im Alltag beim Referendum strenge Hygienevorschriften gelten lassen. So sollen möglichst viele Russen zu Hause in mobilen Wahlboxen und im Internet abstimmen. Gleichzeitig erstreckt sich die Wahl auf mehrere Tage, damit die Wahllokale nicht zu voll werden. Russlands größte Wahlbeobachter-NGO Golos kritisierte bereits, dass dies die Möglichkeit der Kontrolle durch Beobachter „radikal einschränkt“.
Der Politikexperte Abbas Gallyamov, der Ende der 2000er-Jahre noch für Putin als Redenschreiber gearbeitet hat, kritisiert die Wahl im Gespräch mit dem KURIER ebenfalls als intransparent. „Unter Pandemie-Bedingungen haben die Machthaber mehr Gelegenheit zur Manipulation“, sagt der Experte. „Das Verfassungsreferendum selbst ist zu einem Referendum über weitere 12 Jahre Putin geworden. Angesichts der Umfragewerte für den Präsidenten könnte der Kreml eine ehrliche Wahl durchaus verlieren“, analysiert Gallyamov. Ohne Manipulationen werde man derzeit nicht auskommen.
Wie riskant die Kreml-Taktik ist, zeigen die jüngsten Corona-Zahlen. Erst am Mittwoch meldeten die Behörden mit 218 Toten die höchste Zahl von Todesfällen im Zusammenhang mit der Covid-Epidemie seit ihrem Ausbruch in Russland. Die Anzahl der Neuinfektionen verharrt bereits seit Wochen bei täglich weit über 8.000.
von Maxim Kireev
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