Puigdemont in Brüssel: Der Separatist in erzwungener Pause

Kataloniens abgesetzter, angeklagter Präsident will vorerst in Belgien bleiben, aber kein Asyl beantragen. Spaniens Oberstes Gericht will Anklage gegen Puigdemont erheben.

Draußen, auf der Straße, schwenkt ein Grüppchen Spanier, unter ihnen viele Katalanen, Fahnen, lautstark wird gesungen und skandiert: "Es lebe Spanien! Es lebe Katalonien." Drinnen, in einem Bürogebäude im Herzen des Brüsseler EU-Viertels, japsen derweil Hunderte, wie die Sardinen zusammengedrängte Journalisten nach Luft. Jeder will sehen, will hören, was der so plötzlich aus Barcelona verschwundene Carles Puigdemont bei einer eilig einberufenen, chaotischen Pressekonferenz in der Hauptstadt Europas zu verkünden hat.

Um Asyl wolle er hier jedenfalls nicht ansuchen, stellt der von der Zentralregierung in Madrid abgesetzte Präsident Kataloniens gleich klar. Dennoch will er zunächst in Brüssel bleiben – und von hier aus für die Unabhängigkeit Kataloniens weiter kämpfen. "Wir können einen Teil unserer Rechte und Verpflichtungen besser garantieren und aus Brüssel erfüllen", sagte der 54-Jährige, der sich nach wie vor "als legitimer Präsident Kataloniens" sieht. Zusammen mit einigen seiner Minister hat sich Puigdemont nach Belgien aufgemacht.

Gerichtstermin für Puigdemont

Das Oberste Gericht Spaniens will nun Anklage gegen Puigdemont erheben. Das Gericht in Madrid lud ihn und 13 Mitglieder seiner Regierung für Ende der Woche vor, um formell Anklage gegen sie zu erheben. Die 14 Angeklagten sollen zudem binnen drei Tagen den Betrag von 6,2 Millionen Euro hinterlegen, wie die Richterin Carmen Lamela am Dienstag mitteilte. Das sind die geschätzten Kosten des für illegal erklärten katalanischen Unabhängigkeits-Referendums vom 1. Oktober.

Zuvor hatte die Generalstaatsanwaltschaft Anklage gegen Puigdemont wegen "Rebellion", Unterschlagung und Amtsmissbrauch beantragt.

"Auf Rebellion steht bis zu 30 Jahre Haft! Das wäre eine gleich hohe Strafe wie für Terrorismus! Der spanische Staat setzt uns mit Terroristen gleich", klagt einer von Puigdemonts Mitstreitern. Nach Katalonien werde er zurückkehren, kündigte Puigdemont an, wenn ihm von Madrid "bestimmte Zusicherungen" gemacht würden. Doch danach sieht es derzeit nicht aus. Seit Freitag Nacht hat Madrid die Kontrolle über Katalonien übernommen.

Am 21. Dezember soll in der Region neu gewählt werden. Den Wahlgang will Carles Puigdemont akzeptieren – und auch das Ergebnis, "was immer es sein wird". Seine Partei ebenso wie die anderen separatistischen Gruppierungen haben bereits angekündigt, teilzunehmen. Ob er selbst vor dem Urnengang zurückkehren wird, ließ er gestern allerdings offen.

Neuwahlen

Mit den Neuwahlen können auch Puigdemonts spanisch-katalanische Kritiker draußen auf der Straße gut leben. "Das ist die Lösung", meint Maria, eine UN-Mitarbeiterin aus Barcelona. "Dann bestimmen wir auf demokratischem Weg eine neue Regierung für Katalonien. Und ich bin mir sicher, dann wird sich zeigen, dass die Mehrheit bei uns eine Führung wählt, die Katalonien nicht aus Spanien hinausführen will."

Eine Unabhängigkeit Kataloniens, wie sie Carles Puigdemont vorschwebt, weisen auch die anderen EU-Staaten geschlossen zurück. Gesprächspartner Brüssels ist und bleibt die Regierung in Madrid. Insofern stieß der abgesetzte Katalanen-Präsident mit der Hoffnung, den Konflikt "ins Herz der EU zu tragen", gestern erneut nur auf kühle Ablehnung. Die einzige offizielle Reaktion auf Puigdemonts überraschenden Brüssel-Besuch kam gestern von EU-Präsident Antonio Tajani: "Katalonien ist kein unabhängiger Staat, sondern eine autonome Region, die für die spanische Verfassung und die EU-Regeln gestimmt hat."

(Ingrid Steiner-Gashi)

Fritz (ORF) über Puigdemonts Vorhaben in Brüssel

Lluis Juan Sánchez kann sich vor Wut kaum zurückhalten: "Puigdemont hat uns verraten", schimpft der 48-jährige Jurist. Sein Freund Alonso nickt zustimmend: "Wie kann der Kopf unserer Unabhängigkeitsbewegung einfach abreisen, ohne ein Wort das Weite suchen?", fragt er fassungslos.

Puigdemont in Brüssel: Der Separatist in erzwungener Pause
A man holding a Catalan separatist flag (L) looks at men holding a Spanish flag outside the Generalitat Palace, the Catalan regional government headquarters in Barcelona, Spain, October 30, 2017. REUTERS/Juan Medina
Hier am Sitz der separatistischen Linkspartei von Carles Puigdemont in der belebten Carrer de Provença nahe der noblen Prachtstraße Gràcia sind die Anhänger des abgesetzten Regionalpräsidenten ratlos und zornig zugleich. "Wir geben aber nicht auf, wir werden bei der Wahl am 21. Dezember antreten und unser Projekt zu Ende führen", sagt Sánchez.

Gegen Franquisten

Auf die Frage, warum die Partei bei der von Madrid angeordneten Wahl nicht aus Protest fernbleiben wolle, gibt Sanchez unverblümt zu: "Es geht um Macht, Einfluss, Posten und Geld. Es geht um den Kampf gegen die Franquisten und Faschisten in Madrid."

Das ist die Wortwahl katalanischer Separatisten und ihrer Sympathisanten, wenn es um die Regierungspartei Partido Popular (PP) von Ministerpräsident Mariano Rajoy geht. Die PP wird als Erbe des Movimiento Nacional von Diktator Franco gesehen. Die Unterdrückung der Katalanen durch Franco ist nicht vergessen, sie gehört zur Erzählung vieler Katalanen und wirkt bis heute identitätsstiftend. Auch wenn die Ablehnung und zuweilen der Hass vieler Katalanen auf die Elite in Madrid nicht zu übersehen ist, mit der Übernahme der Amtsgeschäfte durch Emissäre der Zentralregierung und der Ausrufung von Neuwahlen ist Rajoy ein Coup gelungen.

Die Implementierung von Artikel 155 der spanischen Verfassung (die Entmachtung der katalanischen Institutionen) zeigt, dass die Separatisten keinen Plan B und keine weiterführende Strategie haben. Nach der "feigen Flucht von Puigdemont und seiner Verspottung des Rechtsstaates", wie El País schreibt, sind die Separatisten ein zerstrittener Haufen. "Ein tiefer Riss geht durch die Unabhängigkeitsbewegung", kommentiert die angesehene Tageszeitung.

Dass die geschwächten separatistischen Parteien bei der Wahl antreten werden, haben sie bereits angekündigt. Eine gemeinsame Wahlplattform ist im Gespräch. Nach der Anklage gegen den abgesetzten katalanischen Regionalpräsidenten und seine Mitstreiter gewinnt der moderate Flügel seiner Partei PDeCAT an Gewicht. Ex-Minister Santi Vila will als Spitzenkandidat ins Rennen gehen und mit Madrid über den Status Kataloniens verhandeln. Befürworter und Gegner einer Unabhängigkeit halten sich in etwa die Waage. Meinungsforscher rechnen, dass jene Parteien, die die Einheit Spaniens favorisieren, zulegen werden. Zulauf verzeichnen derzeit die Ciudadanos, eine liberal-konservative Partei von Albert Rivera, der selbst Katalane ist.

Aus dem Exil regieren

Aber auch Puigdemont will die Zügel nicht aus der Hand geben, formal ist er Parteichef und will "aus dem Exil regieren", sagen seine Freunde. Er akzeptiert jetzt auch die Wahlen, die er zuvor noch vehement abgelehnt hat.

Indessen verhandeln seine Anwälte in Barcelona diskret mit Madrid über Bedingungen einer Rückkehr. Dem Vernehmen nach will Puigdemont nur dann zurückkehren, wenn er nicht ins Gefängnis muss.

(Margaretha Kopeinig)

Puigdemont in Brüssel: Der Separatist in erzwungener Pause
Spain's deputy prime minister Soraya Saenz de Santamaria speaks during a news conference at the Moncloa Palace in Madrid, Spain, October 16, 2017. REUTERS/Juan Medina
Schon seit Jahren schickt Spaniens Premier Mariano Rajoy seine Stellvertreterin Soraya Saenz de Santamaria vor, wenn es wirklich kriselt. Jetzt hat er sie mit dem härtesten Job des Landes und vermutlich Europas betraut: Die Polit-Quereinsteigerin soll nach der Entmachtung der katalanischen Regierung und deren Präsidenten Carles Puigdemont die widerspenstige Region bis zu den Neuwahlen am 21. Dezember und darüber hinaus leiten.
Immerhin stimmten bei dem Referendum vom 1. Oktober mehr als zwei Millionen Katalanen für die Abspaltung von Madrid, danach gingen Hunderttausende für die Eigenstaatlichkeit auf die Straße – aber ebensoviele für die Einheit. Auch diese Kluft gilt es für de Santamaria zu überwinden.
Zu Rajoy stieß die als intelligent, ehrgeizig und arbeitsam beschriebene 46-jährige Juristin im Jahr 2000, als dieser – damals Minister – eine Mitarbeiterin suchte. Obwohl sie kein Parteibuch hatte, wurde sie schnell die rechte Hand des Ressortchefs. „Rajoys Mädchen“ nannten sie viele verächtlich, ähnlich wie in Deutschland Angela Merkel als „Kohls Mädchen“ bezeichnet wurde.
Nach zwei verlorenen Wahlen machte sie Rajoy, selbst kein begnadeter Redner, 2008 zur Fraktions- und somit zur Oppositionschefin. Scharfzüngig kritisierte sie die sozialdemokratische Regierung, was die nur 1,50 Meter große Frau landesweit bekannt machte. Nachdem sie mit ihrem Chef die Wahlen 2011 gewonnen hatte, stieg sie zur unumschränkten Nummer zwei auf.
Liefert de Santamaria in Katalonien jetzt ihr Meisterstück, hat sie gute Chancen, Spaniens erste Premierministerin zu werden.

(Walter Friedl)

Kommentare