Der zündende Funke ging von einer Steckdosenleiste im 15. Stock eines abgesperrten Hochhauses in Ürümqi, der Hauptstadt der chinesischen Provinz Xinjiang, aus. Er entfachte nicht nur ein Feuer, dem zehn Menschen zum Opfer fielen, weil die Sicherheitskräfte nicht rechtzeitig an Lockdown-Absperrungen vorbeikamen, sondern auch Proteste gegen die Null-Covid-Strategie der Regierung, die sich am Wochenende wie ein Flächenbrand im ganzen Land ausbreiteten.
In etlichen Millionenstädten formierten sich Straßenproteste, Videos belegen diese unter anderem in der Hauptstadt Peking, der Wirtschaftsmetropole Schanghai oder in Wuhan, wo die Pandemie einst ihren Anfang nahm. Alles Städte, die bereits unter Lockdowns standen oder angesichts von 40.000 Neuinfektionen vor der Gefahr stehen, erneut abgesperrt zu werden.
Es ist die größte Protestwelle in China seit der Demokratiebewegung 1989, die damals in einem Massaker an den Demonstranten auf dem Tian’anmen-Platz endete. Warum löste sie ausgerechnet ein Unglück in der Uiguren-Provinz Xinjiang aus?
Lebensgefahr in den eigenen vier Wänden
„Ich glaube, dass die Menschen, die in China gerade selbst von Lockdowns betroffen sind, durch den Vorfall in Ürümqi aufgeschreckt wurden“, sagt die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik zum KURIER. „Sie haben erkannt, dass es lebensgefährlich sein kann, wenn man in den eigenen vier Wänden eingesperrt ist.“
Zudem sei die Polizei in keiner anderen chinesischen Provinz so präsent wie in der Uiguren-Region Xinjiang – und auch nirgendwo sonst berüchtigter für ihre Brutalität. „Trotzdem sind die Proteste dort eben nicht brutal niedergeschlagen worden, was für viele im Rest des Landes ein Anreiz war, ebenfalls auf die Straße zu gehen“, so Weigelin-Schwiedrzik.
Werden die Proteste zur Gefahr für Xi Jinping?
Besondere Brisanz hat der Protest in Schanghai: Auf Videos ist zu sehen, wie sich die Kritik dort nicht nur gegen die Null-Covid-Strategie, sondern direkt gegen den Präsidenten richtete. Konkret skandierten dort einzelne Demonstranten: „Nieder mit der kommunistischen Partei! Nieder mit Xi Jinping!“
Richten sich die Proteste also bald landesweit gegen das System?
„Ich denke nicht, dass die Proteste dem Regime gefährlich werden können“, sagt China-Experte Thomas Eder vom österreichischen Institut für internationale Politik (oiip). Dass die Regierung in nächster Zeit von Null-Covid abrücken könnte, glaubt er nicht, denn „auch die Berichterstattung in Parteimedien verspricht nichts anderes“. Dort wird über die Proteste nämlich gar nicht berichtet.
Druck auf die Provinzen
„Xi hat die Verantwortung für den Umgang mit den Protesten ganz bewusst an die Provinzen übergeben, damit nichts auf ihn zurückfällt“, sagt Weigelin-Schwiedrzik. Jede Provinz könne also für sich entscheiden, ob sie mit Lockerungen oder Härte reagiert. Die Sache habe aber einen Haken: „Die Parteiführung in Peking wird ganz genau darauf achten, welche Provinz auf Loyalität gegenüber Xi setzt – also Proteste niederschlägt – und wer von seinem Kurs abdriftet.“
Ausgerechnet die sonst für ihre Härte bekannte Regierung von Xinjiang driftete am Montag ab: Erstmals seit drei Monaten dürfen die Bewohner Ürümqis ihre Wohnblocks wieder verlassen, um Besorgungen zu erledigen.
In anderen Landesteilen, vor allem in Schanghai, rechnet Eder dagegen mit Verhaftungswellen. Ein klassischer Spielzug der kommunistischen Partei wäre, die Proteste tagsüber gewähren zu lassen – „um dann diejenigen, die sich besonders exponiert haben, nachts zu Hause zu verhaften.“
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