Vor einem Monat überquerten ukrainische Verbände überraschend die Grenze zu Kursk, brachten innerhalb kurzer Zeit bis zu 1.000 Quadratkilometer an russischem Gebiet unter ihre Kontrolle und düpierten die russischen Streitkräfte.
Indem sie russische Stellungen umgingen, in deren Rücken die Flagge in Ortschaften hissten, online stellten und weiterzogen, stifteten sie Chaos und Verwirrung – ähnlich der Gegenoffensive in Charkiw vor zwei Jahren.
Frage der Fliegerabwehr
Doch ein tiefer Vorstoß bleibt nach wie vor aus, die Frontlinien in Kursk scheinen sich immer mehr zu verhärten – und die russische Artillerie bombardiert gezielt die Grenzübergänge, um den lebenswichtigen Nachschub zu stören. Nach wie vor sollen bis zu 10.000 Soldaten in Kursk kämpfen. Ob sie über ausreichende Drohnen- und Fliegerabwehr verfügen, werden die kommenden Wochen zeigen.
Indes bleibt die Lage im Donbass weiterhin heikel für die Ukraine. Die vermutete Intention Kiews, Russland müsse Soldaten aus den Verbänden nehmen, die vor der wichtigen Stadt Pokrowsk stehen, hat sich nicht bewahrheitet. Wenngleich der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Oleksandr Sirskij, von einem Erfolg der Kursk-Operation spricht.
„Sie hat die Gefahr einer feindlichen Offensive verringert. Wir haben sie daran gehindert, zu handeln. Wir haben die Kämpfe auf das Territorium des Feindes verlagert, so dass der Feind spüren konnte, was wir jeden Tag spüren“, sagte er in einem CNN-Interview. „In den letzten sechs Tagen ist der Feind keinen einzigen Meter in Richtung Pokrowsk vorgerückt. Mit anderen Worten: Unsere Strategie geht auf“, fuhr er fort.
Belagerung Wuhledars
Tatsächlich scheinen sie – zehn Kilometer vor der Stadt – eine operative Pause eingelegt zu haben. Gleichzeitig nehmen russische Verbände südlich davon weitere Dörfer ein – und noch weiter im Süden versuchen sie, die Stadt Wuhledar zu erobern. Es ist bei Weitem nicht der erste Versuch: Hier fügten die ukrainischen Streitkräfte den Russen des Öfteren massiven Schaden zu, wenn sie versuchten, die Stadt frontal anzugreifen. Doch dieses Mal scheinen sie zu versuchen, Wuhledar einzukreisen – auch von westlicher Seite. In den vergangenen Tagen nahmen russische Einheiten das Dorf Prechystivka, etwa 13 Kilometer westlich der Stadt ein. Es liegt an jener Frontlinie, an der die ukrainischen Streitkräfte vor einem Jahr im Zuge ihrer Gegenoffensive bis zum Asowschen Meer vorstoßen wollten.
In einem früheren Interview mit dem Guardian hatte Sirskij geschätzt, dass bis Jahresende 690.000 russische Soldaten in der Ukraine im Einsatz sein sollen. Trifft dies zu, könnte die operative Pause im Raum Pokrowsk dazu dienen, ebenjene Kräfte heranzuführen, die für einen Durchbruch notwendig sind. Geschieht das, droht die gesamte Donbass-Front für die Ukraine zu kollabieren – Pokrowsk ist ein wichtiges Logistikzentrum und die letzte Verteidigungslinie vor dem Fluss Dnipro (der allerdings 200 Kilometer weiter westlich liegt).
Kam man den Russen zuvor?
Flächenmäßig haben die ukrainischen Streitkräfte in der Kursk-Operation mehr Gebiet eingenommen als die russischen Streitkräfte zwischen Pokrowsk und Awdijiwka, das im Februar gefallen ist. Allerdings ist der strategische Wert im Donbass aus derzeitiger Sicht weitaus größer. Sollte es hingegen in naher Zukunft tatsächlich zu Verhandlungen kommen, könnte sich das in Besitz genommene Gebiet in Kursk als wertvoll erweisen.
Die Kursk-Operation dürfte jedoch noch einen anderen Grund gehabt haben: einem russischen Angriff auf ukrainisches Territorium in Sumy zuvorzukommen und eine Pufferzone auf russischem Boden zu errichten. Als russische Truppen im Frühling in den Oblast Charkiw eindrangen, fürchtete man, dass dasselbe in Sumy geschehen könnte. Aus dieser Sicht könnte die Ukraine – so die Streitkräfte das Gelände halten können – einen Erfolg verbuchen.
Gleichzeitig hat Russland seine massiven Luftangriffe auf die ukrainische Infrastruktur verstärkt – und nach wie vor herrscht ein Abnützungskrieg, den jene Macht gewinnt, die über die meisten Ressourcen verfügt.
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