Richard David Precht: "Es gibt auch umgekehrten Sexismus"
Zehn Tage hat der Machtkampf um die Kanzlerkandidatur von CDU/CSU nicht nur die deutschen Nachrichten dominiert – am Ende siegte Armin Laschet über Markus Söder. Ein Pyrrhussieg, weil sich die Union schwer beschädigt hat? Der deutsche Philosoph Richard David Precht, 56, relativiert.
KURIER: Zwei alte weiße Männer lieferten einander einen Revierkampf, und die junge Grüne kann sich schon zur Kanzlerschaft gratulieren – kann man die vergangene Woche so zusammenfassen?
Richard David Precht: Nein, das halte ich für eine Übertreibung. Erstmal finde ich es nicht schön, wenn Männer, die jünger sind als ich, so wie Markus Söder, als alt bezeichnet werden ...
„Alte weiße Männer“ wird ja gerne als Totschlag-Synonym gebraucht.
Ich weiß. Richtig ist: Mit Markus Söder hätte die Union deutlich mehr Chancen aufs Kanzleramt gehabt. Jetzt haben die Grünen zumindest den Hauch einer Chance bekommen.
Hat sich die Union selbst beschädigt, oder kann sie von dem Hauen und Stechen auch profitieren?
Profitieren nicht, aber vielleicht erholt man sich wieder davon. Das ist ja nicht das erste Mal, dass zwei Kandidaten gerne Kanzlerkandidat werden wollen. Wenn man sich das Spektakel anschaut, das die SPD veranstaltet hat, wo sie durch die Dörfer gezogen sind und überall die Landkreise erobern mussten: Noch nie haben sich Kandidaten so stark beschädigt, wie wenn sie sich pausenlos bei der Basis anpreisen müssen. Damit verglichen war das Hauen und Stechen in der CDU/CSU ja ziemlich kurz.
Bei den Grünen lief die Kandidatenentscheidung glatt. Liegt das auch an den handelnden Personen?
Bei den Grünen war klar, es würde sich durchsetzen, wer’s unbedingter will. Und Annalena Baerbock hatte den viel stärkeren Zug zur Macht als Robert Habeck.
Den Zug zur Macht hatte Markus Söder auch.
Ja, aber die freundliche, verbindliche Art des Armin Laschet hat nur kaschiert, dass er das genauso gerne werden wollte.
Robert Habeck hat geklagt, dass sein Kanzlertraum dahin ist und er Opfer des umgekehrten Sexismus geworden sei, der ihn an Äußerlichkeiten – erst gefeierter, dann fallen gelassener Anti-Typ zum Politiker – gemessen habe. Hat er da recht?
Es ist interessant, dass ein Grüner einmal diese ehrlichen Worte ausspricht. Es gibt auch umgekehrten Sexismus, nicht nur den von Männern gegenüber Frauen. Ich habe eine fundamentale Kritik an der Biologisierung von Kompetenzen. Dass man die Eignung für ein Amt vom Geschlecht abhängig macht, habe ich immer für falsch gehalten, egal ob bei Männern oder Frauen.
„Frau“ war bei den Grünen explizit mit Entscheidungsgrundlage.
Überall wo man sagt, Frauen werden bei gleicher Eignung bevorzugt, halte ich das für falsch. Ich kann Emanzipation nicht daran erkennen, zu sagen, jetzt wart ihr so lange dran, jetzt sind wir mal dran. Das entspricht in keiner Form der Idee der Chancengerechtigkeit.
Hat die ganze Aufregung der letzten Wochen auch mit den Sozialen Netzwerken und Online-Medien zu tun, die gerne hyperventilieren?
In den letzten Jahrzehnten ist der Yellow-Press-Faktor in der Politik immer stärker geworden. Man redet immer mehr über Personen und im Vergleich immer weniger über Sachthemen.
Philosoph
Richard David Precht ist ein deutscher Philosoph und Publizist. Der 56-jährige Germanist ist zudem Honorarprofessor für Philosophie an Unis in Lüneburg und Berlin. Er befasst sich viel mit den Bereichen Bildung, Digitalisierung, bedingungsloses Grundeinkommen.
Bücher
Mit „Wer bin ich – und wenn ja wie viele“ eröffnete er 2007 eine nicht enden wollende Serie philosophischer Bestseller. Sein jüngstes Buch („Von der Pflicht“) handelt vom Fürsorgestaat und dem zunehmend „Kunde“ werdenden Bürger in Corona-Zeiten.
Fernsehen
Precht ist häufiger Talkshowgast und Interviewer in seiner eigenen ZDF-Sendung „Precht“.
Im Duell ist das besonders aufgefallen: Es kam nie vor, ich will Kanzlerkandidat werden, weil ich stehe dafür und dafür und dafür ...
Es gibt auch keine inhaltlichen Differenzen, weil die Kandidaten auch nicht mehr stark weltanschaulich geprägt sind. Wer heute in einem Spitzenamt ist, der ist ein Profi darin, flexible Grundsätze zu entwickeln. Es gibt keinen Unterschied zwischen Habeck und Baerbock bei den Themen, und man muss die Unterschiede zwischen Armin Laschet und Markus Söder ebenfalls mit der Lupe suchen. Bei Söder war früher die Migration Thema, dann die Umwelt. Laschet war bisher ein Mann der Kohle, aber auch er wird den Kohleausstieg als Bundeskanzler vollziehen. Lediglich bei Friedrich Merz hätte es Unterschiede gegeben.
Söder bekam durch Corona Rückenwind. Merkel und in Österreich Kurz waren zu Pandemiebeginn im Umfrage-Hoch und spüren jetzt die Unzufriedenheit der Menschen. Ist Politik in Corona-Zeiten schwieriger und undankbarer?
Definitiv. Wie man’s macht, macht man’s falsch. Die Helden des Anfangs waren dann die Narren des Endes, das sah man besonders bei Gesundheitsminister Jens Spahn, der sehr populär war und durch die Impfkampagne so viel an Gewicht verloren hat. Ich bin ja ein Kritiker von Politik, die auf Sicht fährt – bei Klimawandel und Digitalisierung fahren wir viel zu sehr auf Sicht –, aber bei Corona kann man gar nicht anders, als auf Sicht zu fahren. Das trägt das enorme Risiko, dass sich die Dinge ganz schnell ändern und dass das, was heute gut ist, morgen schlecht ist.
Von Corona nicht profitiert haben die Rechtspopulisten. Warum?
Sie haben sich gegen ihre eigenen Überzeugungen gewendet. Rechts zu sein bedeutet ja, für einen rigorosen, starken Staat einzustehen, der durchgreift. Jetzt greift der Staat auf sehr kommode Art mit Maßnahmen durch, und sofort sind die Rechten dagegen und pochen darauf, dass der Staat sich nicht in das Leben der Menschen einzumischen hat. Rechts zu sein und Anarchist – wie geht das zusammen? Sich an die Verschwörungstheoretiker anzuhängen war ein Fehler.
Ist der Egoismus in der Gesellschaft in Covid-Zeiten gewachsen?
Nein. Aber in Krisenzeiten zeigen Menschen ihr wahres Gesicht. Die Hilfsbereiten, Netten, Rücksichtsvollen werden hilfsbereiter, netter, rücksichtsvoller, die Egoisten werden egoistischer. Aber wer am Sinn von Ausgangssperren zweifelt, ist noch kein Egoist. Egoisten sind die, die staatliche Maßnahmen grundsätzlich ablehnen oder nicht befolgen, weil sie nicht einsehen, dass sie auf die Schwachen Rücksicht nehmen müssen und sich selber nicht bedroht fühlen. Zweifel an bestimmten Maßnahmen ist das Eine, das Ausscheren aus der Verantwortlichkeit ist was Anderes.
Ist die Sorge berechtigt, dass die Maßnahmen in unsere Freiheiten eingreifen und der Staat das auch bei künftigen Problemen tun wird?
Covid ist eine sehr kleine Krise im Vergleich zu den Dimensionen der Klimakatastrophe. Dort wird es zwar keine Grundrechts-, aber andere Einschränkungen geben. Etwa in Innenstädten nicht mehr mit großen Autos zu fahren, nicht mehr so viel zu fliegen, keine Kreuzfahrten wie früher zu unternehmen. Lieb gewordene Gewohnheiten können wir nicht mehr auf die gleiche Art und Weise ausleben. Ich bin sicher, dass die Menschen, die gegen Migration auf die Straße gegangen sind und gegen Covid-Maßnahmen, dann gegen die Klimamaßnahmen auf die Straße gehen werden. Das Thema ist ihnen egal, ihr Feind ist der Staat, der habe sich nicht einzumischen.
Das klingt pessimistisch.
Nicht nur. Durch die Corona-Krise haben viele Menschen erkannt, dass sie biologische Wesen sind. Dass wir unglaublich verletzlich sind durch Einflüsse von außen – sei es durch ein Virus, sei es durch Veränderungen im Klima. Diese Erkenntnis könnte man nutzen, um schnellere und effektivere Klimapolitik zu machen.
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