Deutscher Grünen-Politiker Trittin: "Politikmodell von Kurz ist an seine Grenzen gekommen"
Der frühere Umweltminister über die erste Kanzlerkandidatin seiner Partei und Lehren vom Mitregieren. Er glaubt, Türkis-Grün steht die eigentliche Probe noch bevor.
Jürgen Trittin (66) ist von Anfang an dabei – als die deutschen Grünen in den 1980ern Flügelkämpfe führen, 1998 erstmals mit der SPD regieren und jetzt, wenn sie die erste Kanzlerkandidatin stellen. Annalena Baerbock könnte laut Umfragen auf Angela Merkel folgen – vor Armin Laschet, den die Union nach einem zähen Machtkampf nominierte.
KURIER: Herr Trittin, ist Armin Laschet ein Geschenk für die Grünen?
Jürgen Trittin: Ich warne davor, ihn zu unterschätzen. Am Ende hat er die Machtfrage rumpelig, aber brutal gestellt und sie für sich entschieden. Er repräsentiert das Interesse der CDU als Organisation – und die will sich nicht von einem Landesverband dominieren lassen. Söder ist eben nicht in der CDU. Zudem befürchteten viele, dass der CDU Ähnliches droht wie der ÖVP, nämlich Politik losgelöst von der Partei zu machen. Da sind sich Markus Söder und Sebastian Kurz sehr ähnlich.
In der Union riefen bei der Kanzlerkandidatenfrage viele nach Basisdemokratie. Bei den Grünen drang nichts nach außen, kein Aufbegehren der Basis. Sind die streitlustigen Grünen jetzt eine normale Partei geworden?
Wenn es Konkurrenz und Widerspruch gab, haben Parteitage und Mitgliederbefragungen über die Spitzenkandidaten entschieden. Jetzt gab es nur zwei, die infrage kamen. Die waren unumstritten. Wir haben lange mit einer Kanzlerinnenkandidatur gezögert und uns nicht danach gedrängt.
Was waren Ihre Bedenken?
Wenn man das leichtfertig spielt, macht man sich schnell lächerlich. 2002 hat sich FDP-Chef Guido Westerwelle 18 Prozent auf die Schuhsohle gemalt und ist als Kanzlerkandidat durchs Land getourt (Anm. die FDP stand bei fünf Prozent). So etwas wollten wir nicht erleben. Die Entscheidung fiel erst, als sich verfestigte, dass diese Wahl historisch wird …
Erstmals tritt keine amtierende Kanzlerin an …
… zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wird die Frage: Wer ist die dominierende politische Kraft? nicht mehr zwischen Schwarz und Rot ausgefochten, sondern zwischen Grün und Schwarz. Klar, dass wir darauf eine personelle Antwort geben müssen.
Parteichef Robert Habeck hat nun im Interview mit der "Zeit" wissen lassen, wie enttäuscht er ist.
Natürlich ist es ihm schwerer gefallen, weil er verzichten musste. Beide haben eine neue Führungskultur eingeführt, mit einem gemeinsamen Büro und Arbeitsstab. Da war Schluss mit den Aufteilungen und der Strömungslogik, da gab es kaum Konkurrenz. In dieser Situation mussten sie sich entscheiden.
Was macht Annalena Baerbock zur besseren Kanzlerkandidatin?
Beide, Robert wie Annalena, haben das Zeug dazu. Annalena hat eine breite parlamentarische Erfahrung, ist sehr schnell in der Auffassungsgabe – und sie kann zuhören. Nicht, dass sie es nötig hat, aber sie arbeitet auch mit Leuten, die fachlich Ahnung haben, aber definitiv anderer Meinung sind und zu einer anderen Schlussfolgerung kommen. Es nützt nichts, jemanden zu haben, der einem nach dem Mund redet. Das ist wichtiger als vieles andere, weil man den Job, um den es jetzt geht, nicht vorher lernen kann.
Die Grünen haben im Bund mit der SPD regiert, in den Ländern koalieren sie in verschiedenen Bündnissen. Was lässt sich daraus lernen?
Ich würde die Regierungserfahrung auf Landesebene nicht zu hoch gewichten. Das heißt, du bist gut in der dritten Liga, aber im Bund musst du plötzlich Champions League spielen. Es wird erwartet, dass Deutschland mit Frankreich eine Führungsrolle in der EU einnimmt. Da triffst du dann auf der Weltbühne auf Joe Biden und Xi Jinping. Das kann man nicht lernen. Was wir aus der Regierung mit der SPD aber schon gelernt haben: Man darf sich nicht von Rückschlägen entmutigen lassen.
Sie meinen den Bundeswehreinsatz ohne UN-Mandat.
Wir haben 1998 den Einsatz im Kosovo mitgetragen. Die Grünen haben 10.000 Mitglieder verloren, alle Landtagswahlen und sich bei den Europawahlen halbiert. Da hat man eine rote Linie, die nicht überschritten werden will und es passiert doch. Deswegen verliert man in den ersten eineinhalb Jahren an Zustimmung. Wichtig ist aber, am Ende etwas vorweisen zu können. 2002 haben wir mit dem Atomausstieg und der Energiewende auf 8,6 Prozent zugelegt und Schröder die Mehrheit gerettet.
Sie haben vor der türkis-grünen Angelobung prophezeit, dass die österreichischen Grünen erst einmal „in die Fresse bekommen“ werden.
Die eigentliche Probe steht dieser Koalition noch bevor. Das hat weniger mit den Grünen zu tun, als mit dem in die Krise geratenen Politikmodell der Liste Kurz. Dieses Modell der Usurpation der ÖVP durch eine kleine Truppe politischer Manager ist an seine Grenzen gekommen. Wenn man sich ansieht, wie Posten über Nachrichten und SMS verteilt werden, sind das Dinge, die einem aufrechten österreichischen Konservativen – und ich kenne einige – die Fußnägel aufrollt.
Viele Ihrer Parteifreunde haben den „koalitionsfreien“ Raum kritisiert. Annalena Baerbock hat gesagt, so einen Koalitionsvertrag wird es mit ihr nicht geben.
Wir sind in einer ganz anderen Situation. Bei allen Gegensätzen zu uns in der Flüchtlingspolitik, CDU und CSU legitimieren sich nicht in einem Wettlauf über die mieseste Politik gegenüber Zuwanderern, wie es die Liste Kurz gegenüber der FPÖ gemacht hat. Die Union ist breiter aufgestellt und hat gelernt, was passiert, wenn sie diese Karte spielen. Söder hat versucht, den Absturz der CSU in Bayern zu bremsen, und hat das schlechteste Ergebnis in der Geschichte eingefahren.
Sie haben 2013 bereits mit der Union verhandelt, ohne Erfolg – was macht Sie optimistisch, dass es diesmal klappt?
Die Zeit ist über die Positionen der Union einfach hinweggegangen. Die deutsche Industrie und Energiewirtschaft wollen heute schneller aus der Kohle aussteigen als die CDU. Auch in der für Deutschland nicht unwichtigen Automobilindustrie hat sich einiges verschoben. China ist der größte Markt der Welt. Die Entscheidungen dort für die Elektromobilität hat Volkswagen schnell und am Ende auch Daimler gezwungen, diesen Weg zu gehen. Damit hat sich die Debatte, wie lange es noch Verbrennungsmotoren geben wird, erledigt.
Ihr mögliches Gegenüber Armin Laschet ist auch Ministerpräsident im Kohleland Nordrhein-Westfalen und hat bisher nicht viel Leidenschaft für Klimaschutz gezeigt.
Mit Armin Laschet haben wir jemanden, der – außer man zwingt ihn auf den letzten Metern – nicht entscheidungsfreudig ist. Er wird immer am Gängelband des starken Mannes aus Bayern hängen. Wir Grünen werden also immer zwei Mal verhandeln müssen. Das unterscheidet sich qualitativ nicht von der Vorstellung, mit einer demoralisierten SPD und einer unentschlossenen und zerstrittenen Linken zu regieren oder gar mit der FDP. Es würde alles nicht rosig. Aber wenn es einfach wäre, könnte es ja jeder machen.
Zur Person: Jürgen Trittin (66) ist ein Grüner der ersten Stunde. Der gebürtige Bremer trat 1980 in die Partei ein und wird dem linken Flügel zugeordnet. Von 1998 bis 2005 war er der erste grüne Umweltminister im Kabinett von SPD-Kanzler Gerhard Schröder, später Fraktionschef und Parteivorsitzender. Derzeit ist er Abgeordneter mit Fokus auf Außenpolitik
Metamorphose: 1980 in Karlsruhe gegründet, ist die ehemalige Anti-Parteien-Partei dort, wo sie lange nie sein wollte: an der Macht. Ihre Metamorphose brachte ihr Fans von Industrie bis Kirche ein. In den Bundesländern regieren sie an der Seite von Liberalen, Sozialdemokraten, Linken und Konservativen. 2021 haben sie gute Chancen, das Kanzleramt zu erobern bzw. stark zu werden. Eine aktuelle Umfrage (Allensbach) sieht sie bei 23 Prozent, CDU/CSU stehen bei 28 Prozent.
Geteilte Macht: Seit 2018 führen Annalena Baerbock und Robert Habeck die Partei – ohne Flügellogik – und stärker in die Mitte. Sie verstehen sich als gleichberechtigtes Duo – nur die Kanzlerkandidatur konnten sie sich nicht teilen. Er ließ ihr den Vortritt.
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