Von Inzidenz 885 auf 35: Das Corona-"Wunder“ von Portugal
Um 10 am Morgen ist alles so wie (fast) immer: Die Stadt erwacht, die ersten Menschen kommen auf die Straßen, die Geschäfte öffnen. Weil es ein regnerisch-kühler Tag ist, setzen sich viele Lissaboner nicht an die Tischchen vor ihren Cafés im Freien, sondern hinein – seit Montag darf man auch das wieder.
„Es tut so gut, die Bica (Espresso) wieder hier nehmen zu dürfen“, sagt Cristina in der Pastelaria Versailles, die von außen wie so viele in Portugals Hauptstadt unscheinbar und innen wie ein Salon der (vorigen) Jahrhundertwende aussieht. Kellner und Menschen im Lokal, das wirkt auch wie aus einer anderen Zeit.
Schon die Anreise ist anders. Der Flieger von Wien nach München ist zu vier Fünftel leer – Stille, Corona-Tristesse beim Reisen. Unter den Passagieren Europaministerin Karoline Edtstadler, die dem EU-Vorsitzland Portugal einen Besuch abstattet, und Klaudia Tanner, die zu einer Verteidigungsministerkonferenz reist. Das Flugzeug von München nach Lissabon dagegen ist bis zum letzten Platz gefüllt, Reden und Lachen, fast wie in Vor-Corona-Zeiten, nur mit Maske.
Portugal ist Corona-technisch ein Phänomen. Lange kam das Land, im Gegensatz zum Nachbarn Spanien, vergleichsweise glimpflich durch die Pandemie. Dann, um Weihnachten, stiegen die Infektionszahlen plötzlich. Und im Jänner schlug die britische Virus-Mutation voll zu, Portugal wurde zur Corona-Hölle Europas: Die Sieben-Tagesinzidenz pro 100.000 Einwohner kletterte auf 885, täglich gab es 13.000 Neuinfektionen und rund 300 Covid-Todesopfer – die Zahlen waren die höchsten weltweit, das Gesundheitssystem stand vor dem Kollaps.
Drei Monate später hat das Land den zweiten von vier Öffnungsschritten hinter sich: Lokale dürfen nun auch im Innenbereich unter Auflagen Gäste bewirten, Gymnasien und Unis, Theater, Kinos und Einkaufszentren haben geöffnet. Denn die Inzidenz liegt bei nur noch rund 35!
„Diszipliniert“
Dass es soweit kommen konnte, lag an einem knallharten Lockdown. Seit Mitte Jänner durften die Menschen kaum vor die Tür; Treffen mit Personen anderer Haushalte waren verboten; Schulen, Kindergärten, Unis zu, ebenso die Landesgrenzen. „Der Lockdown war sehr effektiv und die Menschen waren trotz unvermeidlicher Corona-Müdigkeit sehr diszipliniert“, sagt André Peralta Santos, ein führender Gesundheits-Wissenschafter des Landes, „vor allem die Mobilität wurde extrem reduziert“.
Das „Wunder“ folgte, zu Ostern mit so weit gesunkenen Zahlen, dass zunächst Straßencafés öffneten, kleinere Geschäfte und Museen, Sport im Freien wurde möglich. Homeoffice blieb Gebot, so wie jetzt auch noch. Sperrstunde ist um 22.30 Uhr unter der Woche und 13 Uhr am Samstag. Anfang Mai soll ein weiterer Schritt in Richtung Normalität folgen.
Zehn Gemeinden haben noch keine Lockerungen. Eine Matrix aus Reproduktionsfaktor/Inzidenz zeigt automatisch, wo allenfalls wieder Restriktionen kommen können. Aber: „Die Pandemie war eine Hochschaubahn, aber ich bin vorsichtig optimistisch, dass wir über den Berg sind“, sagt Santos.
Edtstadler in Lissabon: Green Pass kommt
Pandemie und die Zeit danach war, neben Migration und der Westbalkan-Erweiterung, auch eines der Themen der Gepräche, die Ministerin Edtstadler in Lissabon führte. Mit Europa-Staatsekretärin Ana Paula Zacarias war sie sich einig, dass der sogenannte Green Pass nicht nur „unglaublich wichtig“ sei, „um den Menschen die Vision zu geben, dass sie bald das Meer sehen können“; sondern dass das digitale Dokument, das getestet/genesen/geimpft nachweist, noch vor Beginn der Sommersaison europaweit auch tatsächlich kommt. "Ich bin zuversichtlich, dass der Pass Mobilität auf allen Ebenen zurückbringt, Urlaubsreisen, Business, Sport", sagte Edtstadler und sprach vom Zieldatum 26. Juni.
Es gebe jedenfalls die Einigkeit in der EU, dass es den Pass brauche. Die EU-Staaten hätten ihre Aufgaben gemacht, in Österreich seien die Gesetze nach dem Ende der Blockade im Bundesrat per Mai ebenfalls auf dem Weg, dann werde es auch die ersten Erprobungen geben. "Welche Testungen, welche Impfungen etc., das liegt beim Gesundheitsminister", sagte die Ministerin. Dessen Aussage, wonach der Grüne Pass keine Priorität habe, seien auf einen Titel reduziert und überinterpretiert worden.
Touristen sind in Lissabon übrigens kaum noch zu sehen (obwohl es aus dem Schengen-Raum kommend keine Quarantänepflicht mehr gibt) – die Pastei de Belem, die berühmteste Konditorei, erlebt man wohl nie wieder so leer wie jetzt. Aber offen. Das ist mehr, als sich die Lissaboner vor zwei Monaten träumen ließen.
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