In letzter Minute ließ Premier Benjamin Netanjahu eine für Dienstagfrüh einberufene Sitzung des Kabinetts „auf später“ verschieben – um doch noch die notwendige Einigung aller Parteien zu einem neuen Wehrpflichtgesetz zu erreichen: Es soll die Freistellung orthodoxer Schriftgelehrter vom Wehrdienst gesetzlich regeln.
12,9 Prozent der israelischen Bevölkerung gehören dieser Gruppe an, die ungestört dem Studium von Tora, Talmud und anderen Schriften nachgehen will. Und bisher durfte. Doch die bisherigen Minister-Erlasse und Gesetzesversuche reichen dem Obersten Gericht nicht mehr. Bis Ende März muss die Regierung ein neues Gesetz vorlegen. Sonst müssen ab ersten April auch bislang freigestellte Studenten zum Armeedienst.
Die Proteste dagegen sind von orthodoxer Seite aus massiv - so wie immer, wenn der Wehrdienst für sie angedacht wird. Am 20. März wurden unter anderem Kinder mit Galgen zum Protest geschickt.
Eine Zerreißprobe für die Regierungskoalition: Netanjahus treueste Verbündete, die orthodoxen Parteien, wollen die Koalition verlassen, sollten in Zukunft Schriftgelehrte doch einberufen werden.
Als das Koalitionsabkommen im Dezember 2022 eine gesetzliche Freistellung frommer Studenten vereinbarte, hatte noch keiner der zukünftigen Minister ein Problem damit. Seit dem Hamas-Überfall im Oktober 2023 aber befindet sich Israel im Krieg. Das Thema Wehrpflicht, das seit der Staatsgründung die israelische Gesellschaft belastet, wurde zum Spaltthema.
Drei Jahre Wehrpflicht
Bei der Staatsgründung 1948 waren es 400 Studenten, die vom Wehrdienst freigestellt wurden. Nach dem Holocaust sollten sie den Neuanfang für die von den Nazis in Europa zerstörten Schulen ermöglichen. Heute sind es insgesamt 60.000 junge Männer, die die „Schrift als ihr Handwerk“ sehen. Dadurch sind sie von der mindestens dreijährigen Wehrpflicht freigestellt.
Nur etwa zehn Prozent der strengfrommen Jugendlichen lassen sich einberufen. Alle anderen stellen ihren Freistellungsantrag. Auch der Kriegsausbruch hat daran nichts geändert. Selbst der Begriff „strengfromm“ oder „gottesfürchtig“ lässt sich nur unklar definieren.
Die Möglichkeiten, über Vergünstigungen den Wehrdienst attraktiver zu machen, sind beschränkt – hat die Regierung in ihrem neuen Haushalt doch die finanzielle Förderung von Schriftgelehrten schon aufgestockt.
Doch anders als beim Wehrdienst hat die Teilnahme der strengfrommen Bevölkerung am Wirtschaftsleben in den letzten Jahren spürbar zugenommen. Die von den Rabbinern geförderte Abschottung von der säkularen Umwelt bröckelt. Mehr als 13 Prozent der Israelis gelten als strengfromm. Weshalb sie als Sozialhilfeempfänger kaum am wirtschaftlichen Alltag beteiligt sind. Doch wirtschaftliche Notwendigkeit, sprich Armut, zwingt vor allem Frauen ins Berufsleben. An Universitäten wurden für sie sogar eigene Ausbildungswege geschaffen.
Die Herrschaft der Rabbiner schwächelt. Den Wehrdienst lehnen sie ab, ist er doch oft der erste Schritt aus dem selbstgeschaffenen Ghetto in die freie Welt.
Steuerausfall
Für Israels Wirtschaft hingegen ist es eine wichtige Entwicklung. So berechnete das Finanzministerium den Steuerausfall für einen Jahrgang Freigestellter, die fast ihr halbes Leben freiwillig als Sozialhilfeempfänger leben, auf über 10 Milliarden Euro. In Umfragen befürwortet deshalb auch fast ein Drittel befragter Strengfrommer die Wehrpflicht. Was sich aber nicht in den Einberufungszahlen zeigt.
Ob sich die Regierung bis Monatsende auf ein Wehrpflichtgesetz für die ultraorthodoxen Juden, die in Religionsschulen studieren, einigen kann, ist völlig offen. Im Streit um die Wehrpflicht wackelt die Regierung. Wobei die Abgeordneten aller Koalitionsparteien wissen, dass sie bei Neuwahlen kaum mit ihrer Wiederwahl rechnen können. Sind sie doch mitverantwortlich für den 7. Oktober – Israels schlimmstes Regierungsversagen seit Staatsgründung.
Netanjahus Stellung in der eigenen Partei ist angeschlagen. Niemals sanken seine Umfragewerte so tief wie in den letzten Wochen. Doch seine Politik wird von einer klaren Mehrheit der Israelis befürwortet: mit einer Offensive im südlichen Gazastreifen gegen die Hamas in Rafah.
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