Obdachlose in Berlin: Leben außerhalb des Radars
Auf dem Kurfürstendamm flanieren Berliner wie Touristen, viele mit Einkaufstaschen in der Hand. Der Boulevard ist nach wie vor beliebte Shoppingmeile. Und abends, wenn die Menschen mit ihren Taschen ins warme Zuhause gehen, das geschäftige Treiben endet, machen sich dort andere für die Nacht zurecht. Nicht nur in den Eingängen der Läden am Ku’damm, ebenso in Unterführungen oder Parks.
Obdachlose, das sind Menschen, die weder festen Wohnsitz noch Unterkunft haben. Wie viele davon auf den Straßen Berlins leben, weiß keiner genau. Es gibt keine Statistik. Experten vermuten mehrere Tausend – und glauben, dass sich ihre Zahl in den vergangenen Jahren erhöht hat.
In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag will der Senat sie erstmals zählen. Mehr als 3000 Leute haben sich freiwillig gemeldet und werden in Teams von 22 bis 1 Uhr die ihnen zugewiesenen Stadtteile abgehen. Organisiert wird das Projekt in Berlin-Kreuzberg. Hier, im Dachgeschoß der Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales, ist das Büro von Klaus-Peter Licht.
Post-its kleben an den weißen Wänden, vor ihm zu Füßen liegt ein überdimensionaler Stadtplan. Manche Orte sind eingekringelt, es sind die Plätze, wo Obdachlose häufig anzutreffen sind. Was er sich von dem Projekt erwartet? "Wo sich die Leute ungefähr aufhalten, damit wir endlich von den ungenauen Schätzungen wegkommen."
Vorbild Paris
Paris sei ihr Vorbild, erklärt Licht. Dort wurde bereits drei Mal gezählt. Dabei fand man heraus, dass weit mehr Frauen obdachlos sind als angenommen – und hat mit auf sie zugeschnittenen Einrichtungen reagiert. Auch in Berlin will man möglichst viel herausfinden, um entsprechende Maßnahmen zu setzen. Die Teams erheben via Fragebogen Geschlecht, Altersgruppe und Herkunft.
Ebenso, ob die Menschen alleine, in Partnerschaft, Gruppen, mit Haustieren oder Kindern auf der Straße leben. Wohnungslos gewordene Familien oder Alleinerzieherinnen sind nicht selten: Es sind Deutsche, die nach Mieterhöhungen nicht mehr zahlen konnten – seit der EU-Osterweiterung auch viele aus Polen, Rumänien, die an der Spree ihr Glück versuchen wollten.
Ein paar Stockwerke unterhalb der Projektleitung, findet gerade eine Schulung für Teamleiter statt. Die meisten der etwa 20 Anwesenden im Raum haben hauptberuflich mit Obdachlosen zu tun, wie etwa Sebastian Böwe. Er arbeitet bei "Housing First" in Neukölln, dort vermittelt man Wohnungen an Obdachlose. Er glaubt zu wissen, dass es in der Hauptstadt möglicherweise weniger Betroffene gibt und meint, dass in den Notübernachtungen oft Plätze frei sind.
Auch weil einige dort "Hausverbot" hätten und zuvor randaliert haben. Dennoch sagt er, sei Berlin ein Hotspot, eine prosperierende Stadt mit gutem Sozialsystem, die viele Menschen anziehe. Wenn er da zum Beispiel nach Polen blicke, müsse er feststellen, dass das dortige Hilfsystem einfach sehr schlecht ist.
Dass es in Deutschland, einer der führenden Kultur- und Industrienationen, überhaupt so viele Menschen gibt, die auf der Straße leben müssen, empfindet Ulrike Strassmann als "peinlich". Sie arbeitet beratend in der Entwicklungshilfe, hat viel von der Welt gesehen und findet, dass einige Länder, wie Skandinavien da fortschrittlicher sind. Dort werden die Probleme der Menschen schon vorab erkannt und abgefangen, bevor sie ihre Miete nicht mehr zahlen können, berichtet sie. "Der Aufwand, der in Deutschland betrieben wird, um Menschen obdachlos zu lassen, ist aus meiner Sicht höher, als etwas dagegen zu unternehmen." Sie hofft, dass die Zählung Fakten schafft, um zu reagieren.
Was sie und die anderen Teamleiter am heutigen Tag erwartet und wie sie mit den Leuten in ihrer Gruppe umgehen, erklärt ihnen eine Frau via Power-Point-Folie. Oberstes Ziel sei: Den Menschen respektvoll begegnen; nicht mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchten oder sie aufwecken – sie werden nur gezählt. Abbruchhäuser sollen gemieden werden, die Sicherheit der Freiwilligen hat Priorität, sagt die Vortragende. Der Organisator des Projekts, Klaus-Peter Licht, hat sich ebenfalls unter die Zuhörer gemischt. Er hofft, sagt er, mit dem Projekt auch "mehr Menschen zu aktivieren". Damit sie nicht wegschauen, sich mit dieser Parallelwelt beschäftigen und nach Lösungen suchen.
Kommentare