Flaschensammler in Berlin: "Eigentlich ist das kein Leben"

Flaschensammler gibt es vor allem in Großstädten wie Berlin viele. Viele sind Rentner oder Hartz-IV-Empfänger
Menschen wie Nils suchen im Müll nach Pfandflaschen, um zu überleben. Ist das gerecht?

Den meisten Leuten ist Nils einfach egal, könnte man sagen. Nils ist einer am Wegrand, einer, der macht, was viele andere auch tun. "Mittlerweile sieht auch keiner mehr hin", sagt er und nimmt einen Schluck Kaffee. "Dafür sind wir zu viele."

Nils lächelt. Auch wenn er sich nicht fotografieren lassen will, über seine Einkommensquelle zu sprechen, ist ihm nicht peinlich. Wobei, Einkommensquelle, Nebenjob, Verdienst, das sagt er nicht. Nils spricht nur vom Sammeln. Davon, dass er in Mülltonnen greift, um dort Pfandflaschen rauszufischen, 8 Cent für die Bierflasche, 25 für Plastik, ab in einen großen Sack, auf zum nächsten Lebensmittelmarkt. "Ein paar Euro kommen so immer zusammen", sagt er; zwei pro Tag sind schon genug. "Das reicht zumindest für Lebensmittel".

Ein Leben wie viele

Nils, 26 Jahre alt, blond, freundliche Augen, gebürtiger Berliner, hat eigentlich keine besondere Biografie. Sie liest sich wie die vieler anderer Deutscher: Zuerst Schule, dann ein bisschen nichts, erst mit 22 die Ausbildung, dazwischen Hartz IV. Wie das Leben von zumindest 4,4 Millionen Menschen, die erwerbsfähig sind, aber dennoch von Grundsicherung leben. Bei Nils kam zum allgemeinen Pech dann noch die Ex-Freundin dazu, "die hatte auch nix", sagt er leise, "außer Hartz IV". 409 Euro im Monat sind das, plus Wohn- und Heizkosten, in einer Bedarfsgemeinschaft natürlich weniger. Geld für Extras? Neue Kleidung? Mal ein Essen auswärts? "Das reicht dafür nicht", sagt Nils. "Ich bin sehr sparsam, aber eigentlich ist das kein Leben."

Frage der Perspektive

Ist das gerecht? In einem der reichsten Länder der Welt? Fragt man die, die es wissen müssten, so sind die Antworten ziemlich unterschiedlich. Da gibt es Marcel Fratzscher, Chef des DIW und einer der profiliertesten Wirtschaftsexperten des Landes, der regelmäßig öffentlich sagt, dass es eine Schieflage gebe in diesem Land. Da gibt es aber auch das Ifo-Institut, das ebenso regelmäßig darauf hinweist, wonach es den Deutschen so gut geht wie noch nie. Also was jetzt?

Tatsächlich stimmt wohl beides. Fest steht, dass sich die Bevölkerung in den vergangenen zehn Jahren polarisiert hat: Auf der einen Seite die, die vom Aufschwung massiv profitiert haben; auf der anderen jene, die die Politik oft verächtlich als die "Abgehängten" bezeichnet. Jene also, die man nicht so gut sieht, außer in den Zahlen: Die 22 Prozent, die in einem Land mit milliardenschwerem Budgetüberschuss und dem vierthöchsten BIP pro Kopf der Welt im Niedriglohnsektor arbeiten – sie verdienen weniger als 60 Prozent des Durchschnittslohns. Die, die nicht wie die "Durchschnittsdeutschen" 185.000 Euro auf der hohen Kante haben, sondern zum unteren Bereich gehören – denn die obersten zehn Prozent besitzen in Deutschland 60 Prozent des Vermögens. Und die, die vom Aufschwung nichts haben, weil er bei ihnen nicht ankommt: Die untersten 40 Prozent der Deutschen verdienen heute real weniger als 1995, so die Bundesbank.

Schizophrene Haltung

Richtig interessant wird das Ganze erst dann, wenn man fragt, wie sich diese Ungleichheit anfühlt. Die Antwort der Deutschen lautet da: Ich selbst bin zufrieden, aber ich glaube, dass es im Land nicht gerecht zugeht. "Selten waren so viele Deutsche mit ihrem persönlichen Leben so zufrieden wie heute", so Fratzscher, dessen DIW diese Daten erhoben hat – auf einer Skala von 0 bis 10, von sehr unzufrieden bis sehr zufrieden also, liegt der Durchschnittswert in diesem Punkt bei 6,8; ist also ziemlich hoch. In puncto gefühlter Gerechtigkeit ist der Wert aber deutlich geringer, da liegt er nur bei 4,8. Was heißt, dass das persönliche Erleben offenbar nichts mit dem generellen Empfinden zu tun hat.

Wie das sein kann? Sieht man sich die Geschichte von Nils an, so sieht man zumindest Ansätze einer Erklärung. "Ja, natürlich", sagt er, der Flaschensammler, auf die Frage, ob er sich in Deutschland gerecht behandelt fühlt. "Vor allem, wenn man Richtung Osten sieht, da geht es einem in Deutschland schon viel besser", sagt er. Warum? Weil man hier Hartz IV, so wenig es auch sein mag, "doch ziemlich leicht bekommt" sagt er. "Und wenn man sich bemüht, dann helfen die einem auch."

"Ein neues Leben"

Bei ihm hat das geklappt, das mit der Hilfe. Vor nicht allzu langer Zeit hat er endlich seine Ausbildung beendet, jetzt arbeitet er als Pharmakant bei einer großen Firma in Berlin. "Ein neues Leben, mit 26", sagt er und grinst.

Nur: Das mit den Flaschen, das macht er schon noch. "So kann ich wenigstens meine Schulden tilgen. Und vielleicht bald mal meine Wohnung renovieren."

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