Nostalgie: War Jugoslawiens Machthaber Tito ein guter Diktator?
Mehr als 40 Jahre nach seinem Tod und 30 Jahre nach Beginn der Balkankriege scheiden sich am charismatischen Gründer des Vielvölkerstaates die Geister.
Ob Mark Zuckerberg eine Ahnung hat, was am 4. Mai 1980 um 15.05 Uhr passiert ist? Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Seinen Mitarbeitern wird aber nicht entgangen sein, dass alle Jahre wieder just zu dieser Uhrzeit die Facebook-User in einem bestimmten Teil Südosteuropas ihre Timelines mit Bildern eines Herrn in weißer Uniform überfluten. Josip Broz lautet der Name dieses Mannes, den die Welt als Tito in Erinnerung behalten hat. Vor mittlerweile 41 Jahren hat der umstrittene Staatsmann, der Jugoslawien salonfähig gemacht hatte, in einem Krankenhaus in Ljubljana seinen letzten Atemzug getätigt. Immer noch weinen ihm manche nach, während ihm die anderen Tyrannei vorwerfen. Im KURIER-Interview erklärt Armina Galijaš, die als Assistenzprofessorin am Zentrum für Südosteuropastudien der Universität Graz arbeitet, den Tito-Kult.
KURIER: Trügt der Social-Media-Schein, oder weinen die Ex-Jugoslawen Tito tatsächlich immer noch nach?
Armina Galijaš: Das hängt doch sehr vom Alter, der regionalen Herkunft sowie der Klassenzugehörigkeit der Nutzer ab. Ich habe den Eindruck, dass diejenigen, die Tito nachweinen, der jüngeren Generation angehören, also keine aktive Erinnerung an ihn haben. Es gibt aber diesen Mythos, der besagt, dass früher alles besser war. Das ist einerseits klassische Nostalgie, andererseits eine Art von Flucht aus dem Nationalismus bzw. eine Alternative zu dem jetzigen Zustand. Und machen wir uns nichts vor: Die soziale, politische und wirtschaftliche Lage in vielen Nachfolgestaaten ist schlecht.
Handelt es sich dabei wirklich nur um Nostalgie?
In Ermangelung an Alternativen und Visionen wähnt man sich gern in Erinnerungen an die „guten, alten Zeiten“. Die Mantras wie „Früher haben wir alle gemeinsam leben können, früher war’s allen wurscht, ob du ein Serbe, Kroate oder Bosniake bist, früher war alles gut“ hört man immer wieder. Aus meiner Sicht ist dies eine Falle, die ganz und gar nicht der Wahrheit entspricht.
Das Ganze ist also doch nicht so harmlos?
Die Menschen neigen doch dazu, sehr unkritisch auf diese Zeiten zurückzublicken. Es handelt sich um eine unvorsichtige Idealisierung, die auch legitim ist, wenn sie in einem kleinen, privaten Rahmen stattfindet. In einem politischen Kontext sollte man aber doch vorsichtig sein. Wir müssen uns dessen bewusst sein, dass das eine bestimmte Ideologie war.
Eine gefährliche?
Mit Ideologien spaßt man nicht. Schließlich sind auch dieser viele Menschen zum Opfer gefallen, z. B. in dem so umstrittenen Bleiburg. Dort wurden ja auch Zivilisten, darunter Kinder umgebracht. Man darf keinen Unterschied zwischen einem in Bleiburg oder Srebrenica getöteten Kind machen.
War Tito quasi ein „guter Diktator“?
Es gibt keine guten Diktatoren. Sicherlich war Tito besser als so mancher Diktator aus dieser Ecke Europas. Aber: Jugoslawien war kein demokratischer Staat, Freiheiten waren eingeschränkt. Die Menschen, die sich nicht mit der Politik befasst haben, dürften dennoch ein angenehmes Leben geführt haben. Dennoch bin ich mir sicher, dass, wenn die politische Lage in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens besser wäre, die Menschen ein angenehmeres Leben führen könnten als zu Titos Zeiten. Es lässt sich nicht bestreiten, dass er seine politischen Gegner einsperrte oder dass es kein Referendum vor der Gründung Jugoslawiens gab. Die Geburt dieses Staates wird nicht all seinen 22 Millionen Einwohnern recht gewesen sein.
War dieser Vielvölkerstaat bloß eine Spielwiese einer schillernden Persönlichkeit?
Er hatte tatsächlich eine komplexe Persönlichkeit. Erst kürzlich las ich eine Biografie über ihn, und nach jedem gelesenen Kapitel fragte ich mich, ob er mich anekelt oder ich ihn nicht doch sympathisch finde.
Wäre Jugoslawien auch dann zerfallen, wäre Tito zu Beginn der 90er-Jahre noch am Leben gewesen?
Ich denke ja. Die geopolitische Lage war damals im Begriff, sich stark zu verändern. Die Berliner Mauer fiel, die Blöcke fielen. Tito hatte Jugoslawien als eine der führenden Nationen in der Bewegung der Blockfreien Staaten etabliert, doch nun, wo die Blöcke fielen und die NATO kam, ergab diese Bewegung keinen Sinn mehr. Jugoslawien wurde von beiden Seiten gut behandelt - eben deshalb, weil es die Waage zwischen den Blöcken hielt. Mit der neuen Weltordnung verlor Jugoslawien enorm an Bedeutung. Auch ein Tito hätte Anfang der 90er nicht den Fall der Berliner Mauer oder die Auflösung des Warschauer Pakts verhindern können. Die politische Lage änderte sich also drastisch – sehr zuungunsten Jugoslawiens. Dieses Land überlebte eben aufgrund der geopolitischen Lage und wurde nicht, wie fälschlicherweise angenommen wird, von der Liebe zwischen den einzelnen Völkern am Leben erhalten.
Wann wird man denn aufhören, Tito bzw. Jugoslawien nachzuweinen?
Es ist an der Zeit, dass sich die zwei Blöcke – die Tito-Fürsprecher und -Gegner – näherkommen. Man sollte endlich akzeptieren, dass es in Jugoslawien nicht alle gut hatten. Ich finde grundsätzlich, dass man versuchen sollte, neue Lösungen für diese Region zu finden. Jugoslawien nachzuweinen oder danach zu streben, die ehemaligen Teilrepubliken wieder zu einem staatlichen Gebilde zu vereinen, ist keineswegs die Lösung. Das halte ich für falsch, ja sogar irre.
Kommentare