Wenn eine ganze Generation im EU-Wartezimmer aufwächst
Die Freude war groß, als Albanien kürzlich in Luxemburg die ersten Kapitel seiner EU-Beitrittsverhandlungen eröffnete. Er bezweifle nicht, so Premier Edi Rama, dass sein Land bis 2030 in der Union sein würde. Noch ambitionierter ist lediglich das kleine Montenegro, das 2028 anvisiert. Auch, wenn viele Experten davon ausgehen, dass es in beiden Fällen noch länger dauern wird: Es geht zumindest voran - nicht in allen Ländern der Region ist das so.
In Nordmazedonien etwa, das bereits am längsten wartet, kann derzeit niemand sagen, wann wieder offizielle Schritte gemacht werden. Einst sah es so aus, als könnte der Staat zusammen mit Kroatien beitreten, das nun schon seit 2013 dabei ist.
"Sind Europäer, auch wenn wir noch nicht in der EU sind"
Ivan Durgutov aus Skopje war noch ein Kind, als sein Heimatland 2004 den Antrag auf Mitgliedschaft einreichte. Er ist fest davon überzeugt, dass Nordmazedonien vom Beitritt enorm profitieren würde, setzt sich im EU-geförderten Netzwerk „Junge Europäische Botschafter“ dafür ein. Man sei zwar auf dem Westbalkan, so der heute 29-jährige Jurist, aber: „Wir sind auch in Südosteuropa. Wir sind Europäer, auch wenn wir noch nicht in der EU sind.“
Mittlerweile ist in dem Land eine ganze Generation junger Menschen wie er mit der Perspektive auf den Beitritt erwachsen geworden. Doch bei weitem nicht alle sind von der EU so überzeugt wie Durgutov.
"Brüssel will uns doch gar nicht"
Ein weiterer Mann um die 30 aus Skopje sagt etwa: „Ich vertraue EU-Politikern nicht. Es wäre besser, wenn wir ihr fernbleiben.“ Und eine 23-jährige Studentin aus dem beliebten Urlaubsort Ohrid erzählt, sie habe sogar richtig Angst vor der Mitgliedschaft - vor allem vor höheren Preisen, die sie mit der Union verbindet. „Wenn hier einmal alles so viel kostet wie in der EU, verhungern unsere Leute.“ Immer und immer wieder zu hören, wenn man herumfragt, ist zudem der Eindruck: „Brüssel will uns doch gar nicht.“
Die meisten Bürger Nordmazedoniens würden auch heute noch für den Beitritt stimmen, weiß Simonida Kacarska vom Institut für Europäische Politik in Skopje. Doch aufgrund der Verzögerungen würden immer weniger daran glauben, dass es tatsächlich irgendwann dazu kommt. „Verzögerungen“, damit meint sie die Vetos zweier EU-Länder. Erst stellte sich Griechenland quer, woraufhin das damalige Mazedonien - so heißt auch eine griechische Provinz - 2019 seinen Namen änderte. Damit gelang der NATO-Beitritt, der Weg in die EU hätte dem Plan nach ebenfalls geebnet sein sollen.
Jetzt aber blockiert Bulgarien. Es ist ein heikler Streit um Identität und Geschichte. Nordmazedonien habe seine historischen Wurzeln in Bulgarien und die mazedonische Sprache sei ein Dialekt des Bulgarischen - so die Sichtweise einiger bulgarischer Politiker und zum Teil auch der Gesellschaft. 2022 vermittelte die französische EU-Ratspräsidentschaft einen Kompromiss: Bulgarien würde das Veto aufheben, wenn Nordmazedonien die bulgarische Minderheit im Land in seiner Verfassung anerkennt. Letzteres geschah aber nicht, im Parlament in Skopje fanden sich nicht genug Stimmen dafür.
Sorge vor dem nächsten Veto
Selbst EU-Befürworter Durgutov ist mittlerweile vom Beitrittsprozess frustriert - und weiß nicht, ob er für die geforderte Verfassungsänderung ist: „Es ärgert mich, dass wir, anstatt über unsere Zukunft wieder über die Vergangenheit diskutieren“, sagt er. Für die Namensänderung sei er damals schon gewesen, habe Nordmazedonien endlich weiterkommen sehen wollen. Warum aber solle man noch einen derartigen Kompromiss eingehen, wenn man doch nicht wisse, ob für danach nicht schon das nächste Veto wartet?
Laut Dragan Tilev - Staatsrat im Europasekretariat, der im Laufe seiner Karriere insgesamt schon mit 18 Europaministern gearbeitet hat - sind mit den Vetos bilaterale Probleme „europäisiert“ worden. Soll heißen: Uneinigkeiten, die zwischen Nordmazedonien und jeweils nur einem EU-Land bestünden, seien zu einem europäischen Problem gemacht worden.
„Wir wollen nur, dass Brüssel genauso vorgeht, wie bei jedem anderen Land. Wir wollen einen normalen Beitrittsprozess“, fordert Tilev. Trotz Blockaden habe man weitergearbeitet und Fortschritte gemacht. Derzeit suche man nach Unterstützung, damit das bulgarische Veto nicht zu einer „unüberwindbaren Hürde“ würde - auch aus Österreich, das in Nordmazedonien eine besondere Rolle spielt (siehe Infobox).
Österreich ist der größte Auslandsinvestor in Nordmazedonien, vor der Türkei und Deutschland. Insgesamt gibt es in Nordmazedonien mehr als 50 Unternehmen mit österreichischer Beteiligung - das niederösterreichische Unternehmen EVN ist der einzige Stromversorger, die Firma A1 betreibt einen großen Teil der Mobilfunknetze.
Wohl auch deshalb gelten die politischen Beziehungen ebenfalls als gut: Sowohl der Außen- als auch der Europaminister der neuen, Ende Juni angelobten Regierung haben sich als Destination für ihre jeweils ersten bilateralen Auslandsbesuche diesen Sommer Wien ausgesucht.
Der durchschnittliche Lohn in Nordmazedonien beträgt nur ungefähr 600€, das bewegt viele zum Gehen. Die starke Abwanderung gerade junger, akademisch wie handwerklich gut ausgebildeter Menschen u. a. in die EU stellt die Region vor große Herausforderungen, fehlen sie doch im eigenen Land. Die Diaspora aus Nordmazedonien in Österreich zählt derzeit ungefähr 27.000 Personen, dabei hat Nordmazedonien nur circa zwei Millionen Einwohner.
„Formal ist Nordmazedonien im Beitrittsprozess noch nicht weit fortgeschritten, aber es ist schon sehr gut an die EU-Gesetzgebung angepasst, weil es so früh damit begonnen hat - in manchen Bereichen besser als Albanien“, sagt auch Politikwissenschafterin Kacarska. Viel Luft nach oben gibt es unter anderem in den Bereichen Justiz und Korruptionsbekämpfung.
Machtwechsel
In diesem Jahr hat sich der lange und für viele enttäuschende Prozess auch auf die politischen Machtverhältnisse ausgewirkt: Seit ein paar Monaten hat Nordmazedonien eine neue Regierung, angeführt von der als populistisch-nationalistisch geltenden VMRO-DPMNE. Das hat nicht nur mit dem EU-Beitrittsprozess zu tun, sondern etwa auch mit mehreren Korruptionsskandalen der zuvor regierenden Sozialdemokraten.
Bereits mehrmals hat die VMRO-DPMNE angekündigt, die von Bulgarien geforderte Verfassungsänderung nicht umsetzen zu wollen. Und auch die von Griechenland gewünschte Namensänderung scheinen manch bekannte Gesichter der Partei nicht ganz akzeptieren zu wollen - Präsidentin Gordana Siljanovska-Davkova etwa nannte das Land bei ihrer Vereidigung „Mazedonien“, was in Athen für Unmut sorgte.
Wenn der junge Mazedonier Durgutov über den EU-Beitritt nachdenkt, spürt er ein „bittersüßes Gefühl“, sagt er: „Wir sind nicht stolz darauf, dass wir schon seit zwei Jahrzehnten im Wartezimmer der EU sitzen.“ Gleichzeitig sei er aber eben genau damit großgeworden und wolle nicht über ein Szenario nachdenken, in dem es mit dem Beitritt niemals klappt.
Hinweis: Die Reise wurde vom Projekt „eurotours“ des Bundeskanzleramts finanziert.
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